Bibel praktisch

Ein weiches Herz

Es war ein bedeutender Augenblick in der Geschichte Josias, als sein Staatssekretär das Buch des Gesetzes hereinbrachte und es ihm vorlas. Ich wünschte, wir könnten im zwanzigsten Jahrhundert von ähnlichen Ereignissen in gehobenen Kreisen hören! Josia hatte die heilige Schriftrolle vorher nie gesehen, noch hatte er daraus gehört. Wie anders erging es ihm als uns heute, die wir das vollständige Wort Gottes besitzen und es so oft lesen können, wie wir wollen! Das Buch des Gesetzes hatte eine große Wirkung auf Josia. Nie war ihm so deutlich, wie untreu Israel gewesen war und wie sehr die Gebote des Herrn vernachlässigt worden waren. Schlimmer noch – man hatte sich offen über sie hinweggesetzt! „Als der König die Worte des Gesetzes hörte, zerriss er seine Kleider“ und weinte (2. Chr 34,19.27).

Diese Einzelheiten über Josias Regierungszeit sind sowohl im Buch der Könige als auch im Buch der Chronika festgehalten. Das zeigt, wie Gott sich über die Demütigung seines Knechtes gefreut hat, zumal in den beiden Büchern nicht jedes Detail aus Josias Leben beschrieben wird. Doch Josia war kein bloßer Gefühlsmensch. Wir können davon ausgehen, dass er ein Mann mit starkem Charakter war. In der Blüte seines Lebens ging er rigoros vor und war es gewohnt, alles voranzutreiben – zum Glück in die richtige Richtung. Eine hohe Position und viel Macht können das Fleisch aufblähen. Dadurch wird man hart und ist dann nicht mehr bereit, Kritik anzunehmen, selbst wenn diese von Gott selbst kommt. Von Napoleon wird Folgendes erzählt: Als er einmal einer Gruppe seiner Marschälle von seinen ehrgeizigen Plänen erzählte, bemerkte einer von ihnen ernsthaft: „Sire, der Mensch denkt, aber Gott lenkt“, worauf Napoleon erwiderte: „Ich denke und ich lenke.“ Doch trotz seiner Prahlerei endete er in St. Helena. Josia dagegen war wie ein Kind vor seinem Gott, ähnlich wie Hiskia. Wunderbare Beispiele, denen wir folgen sollten!

Gott freute sich über Josias Haltung. Als Antwort auf dessen ängstliche Frage sagte Er: „So spricht der Herr, der Gott Israels: Die Worte betreffend, die du gehört hast – weil dein Herz weich geworden ist und du dich vor Gott gedemütigt hast, als du seine Worte über diesen Ort und über seine Bewohner hörtest, und du dich vor mir gedemütigt und deine Kleider zerrissen und vor mir geweint hast, so habe ich es auch gehört, spricht der Herr“ (2. Chr 34,26.27). Das Herz des Menschen ist von Natur aus hart gegenüber Gott. Man beachte die Worte des Apostels in Epheser 4,18: „verfinstert am Verstand, entfremdet dem Leben Gottes wegen der Unwissenheit, die in ihnen ist, wegen der Verhärtung ihres Herzens.“ Der Herr Jesus sprach in seinem Gleichnis vom Sämann davon, dass der gute Same des Wortes auf den Weg fällt (Mt 13,4). Was könnte härter sein oder weniger fruchtbar? Im Gegensatz dazu war Josias Herz empfänglich – gewiss ein Ergebnis davon, dass der Heilige Geist in Gnade an ihm gewirkt hatte. Das göttliche Wort wird in Jeremia 23,29 mit einem Hammer verglichen: „Ist mein Wort nicht so – wie Feuer, spricht der Herr, und wie ein Hammer, der Felsen zerschmettert?“ Der Kerkermeister in Philippi brauchte diesen „Hammer“, als Paulus und Silas zum ersten Mal mit ihm zu tun hatten. Nicht so der König Josia – sein Herz war bereits weich.

Diejenigen von uns, die das Vorrecht haben, in Ländern zu leben, in denen die Bibel regelmäßig gelesen wird, müssen ihre Haltung gegenüber den „lebendigen Aussprüchen“ (Apg 7,38) prüfen. Das, was leicht zu bekommen ist, steht in Gefahr, gering geachtet zu werden. Auch die Vertrautheit mit geistlichen Dingen kann dazu führen, dass sie in unseren Augen nichts Besonderes mehr sind. Jedes Mal, wenn wir unsere Bibel aufschlagen, betreten wir gewissermaßen den Raum, in dem die göttliche Majestät anwesend ist. In dem geschriebenen Wort, das in jede Epoche passt, weil es nie veraltet, hören wir Gottes Stimme. Deshalb sollten wir uns bemühen, unsere Herzen vorzubereiten (was nur der Heilige Geist bewirken kann), bevor wir auch nur eine einzige Seite lesen.

„Vor deinem Wort hat mein Herz sich gefürchtet“, sagt der Psalmdichter (Ps 119,161); „nehmt mit Sanftmut das eingepflanzte Wort auf“, rät Jakobus (Jak 1,21). In den Tagen Jesajas, als das Land Israel von Heuchelei gekennzeichnet war – man rühmte sich seiner religiösen Privilegien, scherte sich aber nicht um den geistlichen Zustand –, sagte der Herr: „Auf diesen will ich blicken: auf den Elenden und den, der zerschlagenen Geistes ist und der da zittert vor meinem Wort“ (Jes 66,2). Beachten wir das Wort „zittern“. Damit ist keine sklavische Furcht gemeint, sondern ein Empfinden für die Größe dessen, der zu uns spricht. Zugleich wird uns bewusst, wie schwer der Ungehorsam wiegt, den wir manchmal gegenüber dem Wort Gottes zeigen. Nach der Rückkehr aus der 70-jährigen Gefangenschaft, als sich herausstellte, dass einige in Israel die Gebote Gottes missachtet hatten, indem sie sich mit den Heidenvölkern vermischten, berichtete Esra: „Zu mir versammelten sich alle, die vor den Worten des Gottes Israels zitterten wegen der Treulosigkeit der Weggeführten; und ich saß betäubt da bis zum Abend-Speisopfer“ (Esra 9,4). Dieses heilige Zittern führte zu Gebet und Bekenntnis und leitete drastische Maßnahmen gegenüber dem Bösen ein, das beseitigt werden musste.

In den Briefen des Herrn an die Versammlungen in Offenbarung 2 und 3 begegnen wir wiederholt der Aufforderung: „Tu Buße!“ Und zu Laodizea, der letzten der sieben Versammlungen, sagte der Herr: „Ich überführe und züchtige, so viele ich liebe. Sei nun eifrig und tu Buße!“ (Off 3,19). Die Liebe wartet auf Umkehr, solange es möglich ist. Die Tür steht bis zur letzten Stunde offen, bevor die Gerechtigkeit dann zum Gericht schreiten muss. Wenn schon Josia den schmerzlichen Ungehorsam Israels während neun Jahrhunderten so deutlich spürte, wie sollten wir uns dann fühlen, wenn wir unsere Geschichte während der vergangenen neunzehn Jahrhunderte seit Pfingsten Revue passieren lassen? Was für eine Bilanz: Abweichung auf der ganzen Linie! Und wie ist in diesem Augenblick der Zustand der Dinge um uns herum? Sind unsere Herzen weich? Kennen wir etwas davon, vor dem Wort Gottes zu zittern?

 

 

Biografisches:

William Wooldridge Fereday wurde 1863 in England geboren. Er fand im Alter von 16 Jahren zum Glauben an den Herrn Jesus. Zu dieser Zeit absolvierte er in London eine kaufmännische Ausbildung in einer Teehandlung. Sein Chef empfahl ihm den Besuch eines christlichen Zusammenkommens im fünf Meilen entfernten Kilburn. Fereday erinnerte sich: „Es war weder eine Kirche noch eine Kapelle, und als ich eintrat, sah ich keinen Geistlichen, keinen Altar, keine Orgel oder sonst irgendetwas, woran ich gewöhnt war. Eine Anzahl von Leuten saß um einen einfachen Tisch. Es war für mich eine Offenbarung zu sehen, wie einfache Menschen hier aufstanden und freimütig zu Gott sprachen. Es war eine wahre Freude zu hören, wie ein alter Bruder für das Brot und den Wein dankte.
Ich spürte, dass die ganze Sache echt war, dass diese Leute nicht nur einer religiösen Form folgten, sondern sich an der Gegenwart Gottes erfreuten. Das war genau das, was mir fehlte.“

Nach der Stunde kam ein älterer Mann auf den jungen Besucher zu und fragte ihn: „Junger Mann, bist du errettet?“ Fereday antwortete, er sehne sich zwar danach, aber er könne sich nicht vorstellen, dass man sich seines Heils sicher sein könne. Der Ältere fragte weiter: „Glaubst du, dass du ein Sünder bist?“ Fereday bejahte. „Glaubst du,
dass Christus für Sünder gestorben ist?“ Auch das glaubte Fereday. „Dann ist er ganz bestimmt auch für dich gestorben“, erwiderte der Gläubige. Ab diesem Moment hatte Fereday Frieden mit Gott.

Schon mit 18 Jahren besuchte er die Versammlungen in seiner Gegend und verkündigte das Wort Gottes. Mit 25 Jahren – Fereday war inzwischen verheiratet und Vater einer Tochter – gab er seinen Beruf nach Gebet und reiflicher Überlegung auf, weil sein
Dienst einen großen Umfang angenommen hatte. Fortan verbrachte er sein Leben mit dem Studium und der Auslegung der Heiligen Schrift. Er galt als ein treuer Ausleger des Wortes Gottes. Viele Jahre lebte er in Schottland, wo er auch im Alter von 96 Jahren heimging.