Jesus Christus
Verhört – verurteilt – gekreuzigt (2)
Die Passionsgeschichte Jesu, die in direktem Zusammenhang mit seinem Kreuzestod steht, beeindruckt uns immer wieder. Wir können nicht oft genug unseren Retter und Herrn betrachten – wie unter schmachvollster Behandlung seine Herrlichkeit zum Vorschein kam. Die folgenden Zeilen sind Gedankenanstöße zu Johannes 19,1-16.
Dann nahm nun Pilatus Jesus und ließ ihn geißeln. Und die Soldaten flochten eine Krone aus Dornen und setzten sie auf sein Haupt und warfen ihm ein Purpurgewand um; und sie kamen auf ihn zu und sagten: Sei gegrüßt, König der Juden! Und sie schlugen ihm ins Angesicht. Und Pilatus ging wieder hinaus und spricht zu ihnen: Siehe, ich führe ihn zu euch heraus, damit ihr wisst, dass ich keinerlei Schuld an ihm finde. (V. 1-4)
Pilatus muss zugeben, dass er keine Schuld an Jesus findet. Seine Pflicht liegt also auf der Hand: Der Unschuldige muss freigelassen werden. Aber für seine politische Laufbahn benötigt Pilatus weiterhin gute Beziehungen zu den Juden – deshalb hier der zweite Versuch (nach Kap. 18,38-40), das Todesurteil von Jesus abzuwenden. Der Statthalter greift dabei auf einen Brauch zurück, nach dem am Passahfest ein Gefangener freigelassen wurde (vgl. Kap 18,39).
Offensichtlich hat Pilatus nicht damit gerechnet, dass die Juden sich für die Freilassung des Aufrührers Barabbas aussprechen würden. Aber weil Pilatus diesen faulen Kompromiss angeboten hat, verliert er nach und nach seine Autorität.
Schließlich unternimmt der Statthalter noch einen dritten Versuch, die Juden zu besänftigen und ein Todesurteil zu verhindern: Er lässt Jesus geißeln und erlaubt den Soldaten, Ihn mit Dornenkrone und Purpurgewand zu verspotten. Will Pilatus die Menge und ihre Führer zum Mitleid bewegen und ihnen andererseits vermitteln, dass sie die königlichen Ansprüche Jesu nicht ernst zu nehmen brauchen? Jedenfalls hofft er, den Gefangenen entlassen zu können; er kann Ihm keinerlei Schuld nachweisen.
Was hat der Herr empfunden, als man Ihn so behandelte? Wir hören seine Klage in den prophetischen Worten: „Pflüger haben auf meinem Rücken gepflügt, haben lang gezogen ihre Furchen.“ Und: „Der Hohn hat mein Herz gebrochen und ich bin ganz elend“ (Ps 129,3; 69,21).
Jesus nun ging hinaus, die Dornenkrone und das Purpurgewand tragend. Und er spricht zu ihnen: Siehe, der Mensch! Als ihn nun die Hohenpriester und die Diener sahen, schrien sie und sagten: Kreuzige, kreuzige ihn! Pilatus spricht zu ihnen: Nehmt ihr ihn hin und kreuzigt ihn, denn ich finde keine Schuld an ihm. Die Juden antworteten ihm: Wir haben ein Gesetz, und nach dem Gesetz muss er sterben, weil er sich selbst zu Gottes Sohn gemacht hat. (V. 5-7)
Der Sohn Gottes, der eine unbeschreibliche Herrlichkeit bei dem Vater im Himmel besaß, bevor Er auf die Erde kam, wird jetzt den Obersten der Juden wie eine Spottfigur vorgeführt. Wie beeindruckend, dass Er eine solche Misshandlung schweigend über sich ergehen lässt! Man denke nur an die körperlichen Schmerzen durch die Geißelung! Hinzu kommt der beißende Spott, der seine heilige und vollkommen empfindsame Seele zutiefst verletzt.
Dann weist Pilatus auf Jesus hin: „Siehe, der Mensch!“ Was will er damit sagen? – Dass man nicht von einem König sprechen kann? – Dass solch eine geschundene Gestalt keine Bedrohung für Rom ist?
Die Hohenpriester und ihre Diener lassen sich davon nicht beeindrucken. Im Gegenteil, von blinder Wut getrieben, schreien sie: „Kreuzige, kreuzige ihn!“
Was bewirkt der „Anblick“ dieses misshandelten und verspotteten Christus bei uns? Sind wir innerlich berührt davon? Bewundern wir Ihn für seine Liebe, in der Er das alles auf sich genommen hat?
Pilatus will kein Todesurteil verhängen, sondern den Fall als religiöse Frage an die Juden zurückgeben. Diese aber berufen sich auf ihre religiösen Privilegien, die sie unter römischer Herrschaft genießen. Es stehe fest, dass Jesus ein Gotteslästerer sei. Deshalb müsse der Statthalter das Todesurteil vollstrecken, das in ihrem Gesetz vorgesehen sei, denn Jesus habe „sich selbst zu Gottes Sohn gemacht“.
Als nun Pilatus dieses Wort hörte, fürchtete er sich noch mehr; und er ging wieder in das Prätorium hinein und spricht zu Jesus: Woher bist du? Jesus aber gab ihm keine Antwort. Da spricht Pilatus zu ihm: Redest du nicht mit mir? Weißt du nicht, dass ich Gewalt habe, dich freizulassen, und Gewalt habe, dich zu kreuzigen? Jesus antwortete ihm: Du hättest keinerlei Gewalt gegen mich, wenn sie dir nicht von oben gegeben wäre; darum hat der, der mich dir überliefert hat, größere Sünde. (V. 8-11)
Der letzte Anklagepunkt, den die jüdischen Führer gegen Jesus genannt haben, lautet: „Er muss sterben, weil er sich selbst zu Gottes Sohn gemacht hat.“ Pilatus bekommt es mit der Angst zu tun. Ist er als Heide abergläubisch und denkt, er habe es mit einem Mann zu tun, der mit überirdischen Mächten in Verbindung steht? Vielleicht ahnt er auch etwas von der Göttlichkeit Jesu. Seine Frage: „Woher bist du“, war eigentlich nicht nötig, weil der Herr bereits etwas dazu gesagt hat (vgl. Kap. 18,36). Dass der Herr dazu schweigt, zeigt zudem, dass sie Pilatus wohl kein aufrichtiges persönliches Interesse hat. Sonst hätte der Herr ihm gewiss noch einmal dazu Stellung genommen.
Gekränkt durch das Schweigen des Herrn, rühmt Pilatus sich seiner Macht. Offensichtlich merkt er gar nicht, dass er unter dem Einfluss der schreienden Menge steht, die die Kreuzigung Jesu fordert. Überdies: Was nützt Macht, wenn sie auf Kosten der Wahrheit und des Rechts ausgeübt wird?
Pilatus steht einer Person gegenüber, die unendlich mächtiger ist als er selbst. Pilatus hat nur Macht über Jesus, weil sie ihm „von oben“ gegeben ist. „Von oben“ bedeutet nicht etwa: „vom Kaiser Tiberius“, sondern: „von Gott“. Gott ist es, der in diesem Moment den Menschen erlaubt, ihre Macht zu gebrauchen, damit sein Ratschluss ausgeführt wird: Jesus steht im Begriff, das Sühnopfer für die Sünden zu werden, durch das Gott geehrt worden ist und Menschen, die an Ihn glauben, Vergebung und ewigen Segen empfangen.
Pilatus ermittelt gegen den angeklagten „König der Juden“. Doch was hier geschieht, ist außerordentlich: Der Richter findet keine Schuld beim Angeklagten, aber der Angeklagte findet Schuld bei seinem Richter. Jesus spricht zwar im Blick auf den Hohenpriester von einer „größeren Sünde“, aber auch Pilatus hat sich an Ihm versündigt. Menschen aus den Juden und aus der Völkerwelt begehen hier das größte Verbrechen, das jemals begangen worden ist.
Daraufhin suchte Pilatus ihn freizulassen. Die Juden aber schrien und sagten: Wenn du diesen freilässt, bist du kein Freund des Kaisers; jeder, der sich selbst zum König macht, spricht gegen den Kaiser. Als nun Pilatus diese Worte hörte, führte er Jesus hinaus und setzte sich auf den Richterstuhl an einen Ort, genannt Steinpflaster, auf Hebräisch aber Gabbatha. (V. 12.13)
Pilatus ist offensichtlich beeindruckt und verwundert. Er unternimmt einen weiteren Versuch, den Herrn freizulassen. Aber die schlauen Ankläger Jesu verstehen sich darauf, den nötigen Druck beizubehalten, damit Pilatus endlich einlenkt und ihrer Forderung nachgibt.
Angesichts des gespannten Verhältnisses zwischen Pilatus und den Juden kann er ihr Geschrei nur als direkte Drohung betrachten. Sie würden ihn beim Kaiser verklagen, falls er Jesus losgibt. Und das könnte schwerwiegende Folgen haben: Pilatus müsste dann nicht nur um sein Amt fürchten, sondern auch um sein Leben.
So wenig sich die Ankläger und der Richter verstehen, sie sind aus demselben Holz geschnitzt: Die jüdischen Führer „liebten die Ehre bei Menschen mehr als die Ehre bei Gott“ (Kap. 12,43); Pilatus liegt mehr an seiner Ehre bei dem Kaiser als an einem Gerichtsurteil auf der Grundlage von Wahrheit und Gerechtigkeit.
Jetzt ist der Zeitpunkt gekommen, wo Pilatus das Urteil sprechen will. Dafür setzt er sich auf den Richterstuhl. Wie grotesk: Ein Ungerechter richtet den Gerechten!
Es war aber Rüsttag des Passah; es war um die sechste Stunde. Und er spricht zu den Juden: Siehe, euer König! Sie aber schrien: Hinweg, hinweg! Kreuzige ihn! Pilatus spricht zu ihnen: Euren König soll ich kreuzigen? Die Hohenpriester antworteten: Wir haben keinen König als nur den Kaiser. Dann nun überlieferte er ihn an sie, damit er gekreuzigt würde. Sie aber nahmen Jesus hin und führten ihn fort. (V. 14-16)
Der Gerichtsprozess steuert auf den Höhepunkt zu: Pilatus hat sich auf den Richterstuhl gesetzt und will jetzt das Urteil aussprechen. Genau hier unterbricht der Evangelist Johannes den Bericht, um uns Zeit und Stunde mitzuteilen. „Rüsttag des Passah“ ist der Tag vor dem großen Sabbat, also der Freitag, an dem nachmittags die Lämmer geschlachtet werden. Er beginnt am Donnerstagabend und endet 24 Stunden später. Innerhalb dieser 24 Stunden drängen sich die furchtbarsten Ereignisse aller Zeit, oder in der Tat auch der Ewigkeit.
Es war am frühen Morgen, als die Untersuchung des Pilatus zum Ende kommt. Er unternimmt noch zwei Anläufe, um die hasserfüllten Hohenpriester und Diener von ihrem Vorhaben abzubringen, indem er sie auf ihren König hinweist. Doch vergeblich. Völlig unbeherrscht schreien sie: „Hinweg!“, oder „nimm weg!“ Sie haben keinen Gedanken und kein Gefühl, kein Wort und keine Absicht mit Jesus gemein. Da ziehen sie lieber einen Mörder vor.
Dass die Hohenpriester den Kaiser als ihren König ansehen, lässt aufhorchen. Politisch gesehen, trifft ihre Aussage zwar zu. Aber dass die Oberherrschaft der Römer über das Volk der Juden eine Strafe Gottes ist, daran denken sie nicht, weil sie ihre eigene Schuld nicht einsehen. Der Kaiser von Rom ist ihnen jedenfalls lieber als Jesus, der König der Juden.
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