Bibelstudium
Die Klagelieder - Prophetische und typologische Auslegung
Um zu verstehen, wie man Jesus Christus im Alten Testament entdecken kann, reichen ungefähr zwei Stunden. Allerdings nur, wenn man einen perfekten Lehrer hat. Diesen Lehrer hatten die Emmaus-Jünger, die auf dem Weg von Jerusalem nach Emmaus von dem Herrn Jesus selbst erklärt bekamen, was über Ihn im Alten Testament vorhergesagt ist: „Und von Mose und von allen Propheten anfangend, erklärte er ihnen in allen Schriften das, was ihn selbst betraf“ (Lk 24,27). Der biblische Bericht enthält diese Zusammenfassung des Herrn Jesus aber nicht – wir müssen uns also selbst auf die Suche machen.
Einleitung
In seinem Buch „Spuren zum Kreuz“ beschreibt Pfarrer Wilhelm Busch, wie er als junger Theologe die Universität verließ und gegenüber dem Alten Testament eine kritische Haltung hatte. Doch durch verschiedene Erlebnisse und Lektüren änderte sich seine Sicht auf das Alte Testament, so dass er an seine theologisch gebildeten Brüder gewandt schrieb: „Brüder, seht ihr nicht, wie uns das Alte Testament verschlossen ist? Zeigt mir einen besseren Weg! Ich bin überzeugt, dass es dem Heiligen Geist gefallen hat, überall im Alten Testament verborgen das Kreuz Jesu Christi zu bezeugen.“ Dass das ganze Alte Testament von Ihm zeugt, hat der Herr Jesus mehrfach selbst bestätigt (u.a. Joh 5,39). Zu diesem Zeugnis zählen auch die Vorbilder (Typen) und die Prophetie des Alten Testaments. Dieser Artikel soll ein Einstieg in die typologische und prophetische Auslegung der Klagelieder sein.
Typologie und Prophetie
Bei der typologischen Auslegung sucht man z.B. nach Personen oder Gegenständen, die als Vorbild auf den Herrn Jesus hindeuteten (oder auch allgemein auf christliche Wahrheiten, was in diesem Artikel aber nicht berücksichtigt wird). Es gibt Vorbilder, die im Neuen Testament bestätigt werden (z.B. das Passah oder Melchisedek) und solche, die unbestätigt sind (z.B. Joseph). In den Klageliedern finden sich Jeremia (sein Dienst und seine Leiden) und Jerusalem als Vorbilder auf Christus, die jedoch im Neuen Testament nicht ausdrücklich bestätigt werden. Vorbilder sind nicht größer als der Gegenstand, auf den sie hindeuten, sie sind „ein Schatten der zukünftigen Dinge, der Körper aber ist des Christus“ (Kol 2,17).
Das Thema der Prophetie ist die Zukunft Israels und anderer Völker; der Hauptgegenstand ist jedoch der Messias, der Herr Jesus. Die Klagelieder zeigen prophetisch etwas von den leidvollen Empfindungen, die der jüdische Überrest in einer noch zukünftigen Gerichtszeit haben wird, und sie weisen auch auf das Gericht hin, das die Feinde Israels treffen wird.
die typologische/vorbildliche Bedeutung der Klagelieder christus und Jeremia
Jeremia ist in seinem Dienst ein Vorbild auf den Herrn Jesus. Das bedeutet, dass man bei der Beschäftigung mit Jeremia an manchen Stellen an das Leben und den Dienst des Herrn Jesus denkt. Da Jeremia im 7./6. Jahrhundert vor Christus gelebt hat, spricht man von einer vorausdeutenden Darstellung (Präfiguration). Dazu zählt, dass der Prophet das Volk Israel liebte, es zur Umkehr aufforderte und doch auf Ablehnung und harten Widerstand stieß. Nur wenige standen ihm zur Seite, wie zum Beispiel der Schreiber Baruch oder der Hofbeamte Ebedmelech. Im dritten Klagelied beschreibt Jeremia, wie er die Feindschaft des Volkes erlebt hat (V. 52-63). Manche Einzelheiten weisen dabei auf den Herrn Jesus hin, der ebenfalls ohne Ursache von seinem Volk gehasst und verspottet wurde. In den drei Jahren seines öffentlichen Dienstes erlebte der Herr Jesus den ansteigenden Hass der Führer Israels und des Volkes, der in der Kreuzigung gipfelte. Matthäus berichtet in seiner Darstellung der Passion Christi, wie unter dem Kreuz die verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen den Herrn verhöhnten (Mt 27,3944). Doch im Gegensatz zu Jeremia (Klgl 3,64-66) bat der Herr Jesus nicht um Vergeltung, sondern betete am Kreuz für seine Feinde: „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun!“ (Lk 23,34)
Die deutlichste Parallele in ihrem Dienst ist die Klage über Jerusalem. Als sich der Herr Jerusalem näherte, um in die Stadt als König einzuziehen, weinte Er über sie: „Und als er sich näherte und die Stadt sah, weinte er über sie und sprach: Wenn du doch erkannt hättest – und wenigstens an diesem deinem Tag –, was zu deinem Frieden dient! Jetzt aber ist es vor deinen Augen verborgen“ (Lk 19,41.42). Was für ein Tag für Israel! Ihr König, der Messias, zog in Jerusalem ein, so wie es im Alten Testament prophezeit war (Sach 9,9). Doch die Reaktion Jerusalems war enttäuschend – der Herr wusste, dass Er in die meisten Herzen noch nicht einziehen konnte. Und so musste Er Jerusalem das Gericht ankündigen, das 70 n. Chr. mit der Zerstörung Jerusalems durch die Römer eintraf. Israel hatte die „Zeit seiner Heimsuchung“ nicht erkannt, die Gelegenheit zur Umkehr nicht genutzt (Lk 19,43.44). An anderer Stelle klagte der Herr Jesus: „Jerusalem, Jerusalem, die da tötet die Propheten und steinigt, die zu ihr gesandt sind! Wie oft habe ich deine Kinder versammeln wollen, wie eine Henne ihre Küken versammelt unter ihre Flügel, und ihr habt nicht gewollt!“ (Mt 23,37). Jeremia hatte Israel Gericht angedroht, und sie wollten nicht umkehren; der Herr kam voller Gnade und Erbarmen, doch auch das haben sie abgelehnt. Es scheint ein allgemeiner Grundsatz zu sein, dass derjenige, der Gott ablehnt, sich sowohl an seinen gerechten Ansprüchen als auch an seiner Gnade stößt. Israel hat nicht gewollt! Wie schwer muss es sein, ein Volk zu warnen und das Unglück doch nicht abwenden zu können, weil keine Umkehr da ist. So blieb Jeremia im Hinblick auf die kommende Zerstörung Jerusalems nur noch übrig, das Volk zur Klage aufzufordern (Jer 6,26). Die Aufforderung zu klagen, findet sich auch bei dem Herrn Jesus. Auf seinem Weg nach Golgatha folgten ihm Frauen, die Ihn beweinten. Doch der Herr macht ihnen deutlich, dass es an der Zeit war, über sich selbst zu klagen, denn Er wusste, welches Leid Jerusalem noch treffen würde: „Jesus wandte sich aber zu ihnen und sprach: Töchter Jerusalems, weint nicht über mich, sondern weint über euch selbst und über eure Kinder“ (Lk 23,28).
Vorbilder auf das Kreuz
Nach seiner Auferstehung öffnete der Herr Jesus seinen Jüngern das Verständnis für die Schriften und erwähnte dabei ausdrücklich, dass das Alte Testament auch von seinen Leiden spricht (Lk 24,46). Auch im Buch Klagelieder finden sich Spuren zum Kreuz.
a) christus und Jerusalem
Im ersten Klagelied fordert Jerusalem die Vorbeigehenden auf: „Schaut und seht, ob ein Schmerz ist wie mein Schmerz, der mir angetan wurde, mir, die der Herr betrübt hat am Tag seiner Zornglut“ (Klgl 1,12). Die eigenen Schmerzen wurden von Jerusalem als unvergleichlich empfunden. Dieser Vers weist über Jerusalem hinaus auf den hin, dessen Schmerzen wirklich ohne Vergleich sind. Die Sühnungsleiden des Herrn Jesus, als Er am Kreuz von Gott verlassen und für fremde Schuld gerichtet wurde, sind einzigartig. Die Einsamkeit, die fehlenden Tröster, die Angst und insbesondere das Empfinden, dass sich Gott gegen sie wendet, waren bei Jerusalem die Folgen der eigenen Übertretungen. Unser Erretter, Jesus Christus, war ohne jede Sünde und Schuld und hat diese Leiden für andere, für uns, erduldet. Bei der Kreuzigung Jesu hielten die Juden Ihn für einen, der von Gott bestraft wird. Erst in der Zukunft wird sein Volk verstehen, was die Gläubigen heute schon wissen dürfen: „Doch um unserer Übertretung willen war er verwundet, um unser Ungerechtigkeiten willen zerschlagen“ (Jes 53,5). Trotz des gegensätzlichen Anlasses können wir in den Schmerzen Jerusalems etwas von den Leiden erahnen, die Christus am Kreuz erduldet hat.
b) christus und Jeremia
Auch die Leiden Jeremias lassen sich als ein Vorbild auf die Kreuzesleiden des Herrn Jesus lesen. In dem dritten Klagelied beschreibt Jeremia, wie er das Gericht Gottes empfindet: „Ich bin der Mann, der Elend gesehen hat durch die Rute seines Grimmes“ (Klgl 3,1). Der Bibelausleger Gaebelein bemerkt dazu zu Recht: „Wenn wir diese Worte tiefer Pein […] lesen, dann müssen wir über Jeremia hinausschauen und sehen ein Bild unseres Herrn, ‚des Mannes der Schmerzen und mit Leiden vertraut‘, seinen Kummer und seine Bedrängnis, die Empfindungen seiner heiligen Seele …“ Es ist bemerkenswert, wie die ersten 18 Verse dieses dritten Liedes mit der bildlichen Sprache der Psalmen übereinstimmen. An vier Beispielen soll das veranschaulicht werden:
Klgl 3 | Psalm | Entsprechung im NT |
Mich hat er geleitet und geführt in Finsternis und Dunkel (V. 2). | Du hast mich in die tiefste Grube gelegt, in Finsternisse, in Tiefen (88,7). | Die Finsternis als Ausdruck des Gerichts |
Er hat verfallen lassen mein Fleisch und meine Haut, meine Gebeine hat er zerschlagen (V. 4). | Denn wie Rauch entschwinden meine Tage, und meine Gebeine glühen wie ein Brand (102,4). | Die körperlichen Leiden des Herrn Jesus |
Wenn ich auch schreie und rufe, so hemmt er mein Gebet (V. 8). | Warum, Herr, verwirfst du meine Seele, verbirgst dein Angesicht vor mir? (88,15) | Jesu Ausruf am Kreuz, der ohne Antwort blieb |
Meinem ganzen Volk bin ich zum Gelächter geworden, bin ihr Saitenspiel den ganzen Tag (V. 15). | Die im Tor sitzen, reden über mich, und ich bin das Saitenspiel der Zecher (69,13). | Die Verspottung des Herrn |
Während die Evangelien schwerpunktmäßig die äußeren Umstände der Leiden Jesu darstellen, beschreibt die anschauliche Sprache des Alten Testaments besonders die Empfindungen des Herrn Jesus.
die prophetische dimension der Klagelieder
Gottes Weg mit Israel ist noch nicht abgeschlossen. Gott hat seinem Volk Verheißungen gegeben, die Er erfüllen wird. Sein Handeln mit Israel ist jedoch in der „Zeit der Versammlung“ unterbrochen. Diese Epoche begann mit der Entstehung der Versammlung an Pfingsten (Apg 2) und endet mit der Entrückung aller Gläubigen. In dieser Zeit hat Israel keine bevorrechtigte Stellung vor den anderen Völkern, wie das im Alten Testament der Fall war. Erst nach der Entrückung wird sich Gott wieder besonders Israel zuwenden. Jedoch zunächst, um es durch eine Erprobungszeit zu führen, die sieben Jahre andauern wird. In dieser „Stunde der Versuchung“ wird Israel (und nach Offenbarung 3,10 sogar der ganze Erdkreis) gerichtet und erprobt werden. Über diese noch zukünftige Zeit enthalten die Klagelieder einige Hinweise. Sie berichten nicht, welche Ereignisse sich in der Drangsalszeit ereignen werden, sondern sie drücken prophetisch das aus, was der gläubige Überrest in dieser Zeit empfinden wird. Dieser Überrest ist der Teil des Volkes Israel, der zu Gott umkehren wird und von Gott erprobt wird (vgl. Jes 10,21.22). Demgegenüber wird der ungläubige Teil des Volkes umkommen. Zudem wird in den Klageliedern an zwei Stellen das Gericht angesprochen, das Gott über die Feinde Israels bringen wird (Klgl 1,21.22; 4,21.22). Nach dem Gericht über die feindlichen Nationen wird der Herr sein Reich auf dieser Erde aufrichten.
die Zeit der drangsal
Die Erprobungszeit Israels wurde schon im Alten Testament angekündigt. Dem Propheten Daniel wurde die Prophezeiung gegeben, dass Gott für sein Volk und Jerusalem eine feste Zeit von 70 (Jahr-)Wochen bestimmt hat, bis zur Errichtung des Friedensreiches (Dan 9,24). Mit der Kreuzigung des Herrn Jesus durch sein Volk endeten die ersten 69 Jahrwochen, die letzte Jahrwoche (= 7 Jahre) steht noch aus. Diese sieben Jahre beginnen nach der Entrückung der Versammlung. In seiner Endzeitrede gibt der Herr Jesus einen Überblick über diese Zeit (Mt 24). Besonders die zweiten 3½ Jahre werden für Israel eine Zeit großer Drangsal sein, wenn Satan auf die Erde geworfen wird, der Antichrist in Israel herrscht, die gläubigen Juden verfolgt werden und einige den Märtyrertod erleiden. Am Ende dieser Drangsalszeit wird auch Jerusalem erobert werden (Sach 14,2). Die Klagelieder zeigen vorausschauend etwas von der Angst und dem Leid des gläubigen Überrestes in dieser Zeit. Die fünf Lieder berichten von der eigenen Ohnmacht angesichts der Übermacht der Feinde, dem Empfinden, dass Gott sein eigenes Volk richtet, und von der Trauer über die vielen Verstorbenen und Weggeführten. Der erste Abschnitt des dritten Klagelieds (V. 1-18) lässt sich nicht nur – wie oben dargestellt – auf die Leiden des Herrn Jesus anwenden, sondern spricht in erster Linie prophetisch von den Leiden des gläubigen Überrestes. Die prophetische Auslegung dieser Verse fasst der Bibelausleger Rossier prägnant zusammen: „Wenn uns diese Verse einerseits den Propheten vorstellen, sei es persönlich, sei es als Vorbild von Christus, so reden sie andererseits auch von den Empfindungen des treuen jüdischen Überrestes der Endzeit, der durch die ‚Drangsal Jakobs‘ hindurchgeht und von dessen Los dasjenige Jerusalems unter Nebukadnezar, wie schrecklich es auch gewesen sein mag, nur ein schwaches Bild war. Dieser Überrest wird, wie hier der Prophet, dem ganzen Zorn der Regierung seines Gottes ausgesetzt sein, bis er seine Hoffnung auf den Herrn hinschwinden sieht. Aber er wird, wie Jeremia, anerkennen, dass diese ganze Bedrängnis von Ihm kommt, ohne sogleich das ‚Warum‘ zu verstehen. Im Lauf seiner Erfahrungen wird er dann herausfinden, dass der Messias dieselben Bedrängnisse durchgemacht hat, um ihn zu befreien – eine Rolle, die Jeremia im Blick auf Jerusalem nicht erfüllen konnte.“ Jeremia konnte aber das Leid des Volkes mitempfinden. Und in dieser Hinsicht weist er auch prophetisch auf den Herrn Jesus hin, der auch Mitgefühl mit den Leiden des Überrestes hat, weil Er selbst durch ähnliche Nöte gegangen ist, gerade im Blick auf diese Leiden des Überrestes. Diese prophetisch beschriebenen Leidenserfahrungen im Alten Testament sind somit auch zum Trost für den Überrest geschrieben.
das Gericht über die nationen
Die Klagelieder geben uns schließlich auch noch einen Eindruck des Gerichts über die Nationen. Am Ende des ersten Klagelieds bittet Jerusalem um Vergeltung für seine Feinde: „Lass all ihre Bosheit vor dein Angesicht kommen und tu ihnen, wie du mir getan hast wegen aller meiner Übertretungen; denn zahlreich sind meine Seufzer, und mein Herz ist krank“ (Klgl 1,22). Und das vierte Klagelied endet mit der Gerichtsankündigung an Edom: „Er wird deine Ungerechtigkeit heimsuchen, Tochter Edom, er wird deine Sünden aufdecken“ (Klgl 4,22). Die Unterwerfung der Feinde Israels erfüllt sich zu Beginn des Friedensreiches. Dann wird der Herr selbst das Gericht ausführen: „Und ich trat die Völker nieder in meinem Zorn und machte sie trunken in meinem Grimm, und ich ließ ihren Saft zur Erde rinnen“ (Jes 63,6). Nachdem der letzte Feind unterworfen sein wird, beginnt die Herrschaft Christi und Jerusalem wird getröstet werden (Jes 51,3). Die Klagelieder schließen mit der Frage: „Oder solltest du uns ganz und gar verworfen haben, allzu sehr auf uns zürnen?“ (Klgl 5,22). Durch die Drangsalszeit wird der Herr sein Volk zubereiten, so dass sie seinen Namen anrufen werden und Er ihnen antworten wird: „Ich werde sagen: Es ist mein Volk; und es wird sagen: Der Herr ist mein Gott“ (Sach 13,9).
Philipp vom Stein
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