Bibelstudium

Praktische Anwendungen aus den Klageliedern

Wie kann sich ein Christ in den Klageliedern wiederfinden, ohne in einem Kriegs- oder Katastrophengebiet zu leben, in denen manches Leid mit dem Jeremias oder Jerusalems vergleichbar ist? Das in diesem Bibelbuch beschriebene Unheil der Zerstörung Jerusalems und der Eroberung Judas resultierte aus ihrer Schuld: „Dein Weg und deine Handlungen haben dir dies bewirkt.“ (Jer 4,18) Unter dieser Perspektive enthalten die Klagelieder Lektionen über die Folgen von Sünde und den Wunsch nach Wiederherstellung.

Aufbau

Verschiedene Stellen im Neuen Testament betonen den moralischen Wert des Alten Testaments für die christliche Versammlung (Gemeinde) (u. a. 2. Tim 3,16.17). In dem folgenden Überblick können nicht alle praktischen Anwendungen aus den Klageliedern berücksichtigt werden, er beschränkt sich daher lediglich auf eine Themenauswahl:

  • Sünde hat ihren Preis
  • Gottes züchtigendes Handeln
  • Schritte zur Wiederherstellung
  • Das Vorbild Jeremias
  • Trost im Buch Klagelieder

Einleitung

Aus allen Völkern hat sich Gott das Volk Israel auserwählt. Dieses Privileg war mit viel Segen verbunden. Israel erlebte Gottes Führung, seine Hilfe in vielen aussichtslosen Situationen, besaß ein sehr gutes Gesetz und konnte Gemeinschaft haben mit Gott, der in ihrer Mitte wohnen wollte. Doch der Genuss des Segens war von Anfang an an eine Bedingung geknüpft: Gehorsam (vgl. 2. Mo 19,5.6).

Indem das Volk manche Anweisungen nicht beachtet hat, haben sie den Segen davon auch nicht erlebt. Die 70 Jahre der babylonischen Gefangenschaft sind beispielsweise eine Addition der Sabbatjahre, die das Volk vor dem Exil nicht eingehalten hat (vgl. 2. Chr 36,20.21). In jedem siebten Jahr sollten die Israeliten nicht auf den Feldern arbeiten; den Ernteausfall würde Gott durch eine reiche Ernte im Vorjahr begleichen. Diese besondere Zeit für den Herrn („ein Sabbat dem Herrn“) hat das Volk Gott vorenthalten und den Segen selbst nie in Anspruch genommen.

Die Gläubigen seit Pfingsten sind noch reicher beschenkt, denn sie sind „mit jeder geistlichen Segnung“ gesegnet (Eph 1,3). Das Beispiel Israels gibt uns einen Denkanstoß: In welchen Bereichen entbehren wir Gottes Segen, weil wir uns nicht an seine Anweisungen halten? Auch für uns gilt, dass nur der genießen kann, der auch gehorsam ist. Israel hat nicht auf die Stimme Gottes gehört, und die Klagelieder dokumentieren das Ergebnis ihres eigenwilligen Weges.

Sünde hat ihren Preis

Jerusalem „hat ihr Ende nicht bedacht und ist erstaunlich gefallen“ (Klgl 1,9). Nicht nur die Hauptstadt Judas, sondern das ganze Südreich befand sich moralisch in der Zeit vor der babylonischen Invasion in einem bedauerlichen Zustand. Die Beziehung zum lebendigen Gott wurde mehr und mehr eingetauscht gegen die Verehrung von toten Göttern, so dass der Prophet das Volk anklagen musste: „Denn so zahlreich wie deine Städte sind dein Götter geworden, Juda.“ (Jer 2,28) Und trotz vieler deutlicher Warnungen blendete das Volk das Ende seines ungehorsamen Weges aus. Doch Sünde hat ihren Preis. Bei der Zerstörung Jerusalems und der Deportation des Volkes musste Juda seine Abtrünnigkeit teuer bezahlen.

Warum hat Juda diesen Weg gewählt, warum haben sie sich den Götzendienst zu eigen gemacht? Eine Antwort findet man in dem Reiz von Sünde. Jede Sünde beinhaltet ein verlockendes Angebot: Durch Stehlen nimmt man sich etwas, ohne dafür zu bezahlen; beim Lügen kann eine schlechte Tat vertuscht werden; durch Abschreiben kann man zu einer besseren Note kommen usw. Auch der Götzendienst enthielt solche Verlockungen: Gott war unsichtbar, die Götter konnte man sehen und anfassen; die eigenen Götter konnte man sich nach eigenen Vorstellungen formen; zudem erheben sie nicht die gerechten Forderungen wie der Herr, auf einem eigenwilligen Weg lebt es sich mit ihnen bequemer; Götzendienst war auch die Religion der Nachbarvölker, und es gab eine Reihe anziehender Sünden, die mit dem Götzendienst verbunden waren (z. B. Hurerei bei Fruchtbarkeitskulten). Das alles hatte eine Anziehungskraft für Israel.

Aber die andere Seite der Medaille ist die Entfremdung von Gott, der Verlust der Gemeinschaft mit Ihm, das Missen des göttlichen Segens und schließlich die Strafe für die begangenen Übertretungen.

Auch uns bietet sich die Welt heute mit ihrem verlockenden Angebot an, „in der Welt ist die Lust des Fleisches und die Lust der Augen und der Hochmut des Lebens“ (1. Joh 2,16). Wer auf diese Verlockungen eingeht, erlebt schnell die negativen Folgen, das schlechte Gewissen, den Verlust geistlicher Freude und Gemeinschaft. „Wenn jemand die Welt liebt, so ist die Liebe des Vaters nicht in ihm“ (1. Joh 2,15). Es ist ein Trugschluss zu meinen, man könne die „angenehme“ Seite einer Sünde genießen und müsse sich um den bitteren Nachgeschmack keine Gedanken machen.

In den Sprüchen Salomos wird die Attraktivität einer (sexuellen) Sünde entlarvt, indem auf das bittere Ende hingewiesen wird: „Denn Honigseim träufeln die Lippen der Fremden, und glatter als Öl ist ihr Gaumen; aber ihr Letztes ist bitter wie Wermut, scharf wie ein zweischneidiges Schwert“ (Spr 5,3.4). William MacDonald fasst diesen Vers so zusammen: „Sünde ist attraktiv im Vorblick, aber grässlich im Rückblick.“

Das Buch Klagelieder veranschaulicht auf drastische Weise die Folgen eines ungehorsamen Weges. Juda hätte sich das warnende Beispiel des Nordreichs zu Herzen nehmen sollen, das von den Assyrern eingenommen wurde, als ein Gericht Gottes für angehäufte Schuld (Jer 3,7-10). Uns liegen neben dem Beispiel der assyrischen und babylonischen Gefangenschaft noch viele andere biblische Warnungen vor und trotzdem lernen auch wir leider häufig nur aus schmerzhaften eigenen Erfahrungen.

Ein Schutz vor Gottes Gericht oder Zucht ist das Selbstgericht (vgl. 1. Kor 11,31). Von einem falschen Weg müssen und dürfen wir zu Gott umkehren: „Prüfen und erforschen wir unsere Wege, und lasst uns zu dem Herrn umkehren!“ (Klgl 3,40)

Gottes züchtigendes Handeln

Der Herr straft Jerusalem, er „hat sie betrübt wegen der Menge ihrer Übertretungen“ (Klgl 1,5). Juda hatte damals weder Gottes Gerichtswarnungen angenommen, noch auf seine Zucht reagiert (vgl. Jer 5,3). Mit der Wegführung Judas greift Gott zu einem letzten Mittel: „Und es soll geschehen, wenn ihr sagen werdet: ‚Weshalb hat der Herr, unser Gott, uns dies alles getan?’, so sprich zu ihnen: Wie ihr mich verlassen und fremden Göttern gedient habt in eurem Land, so sollt ihr Fremden dienen in einem Land, das euch nicht gehört.“ (Jer 5,19) Diese Lektion hat Israel später tatsächlich gelernt, denn nach dem Exil war es vom Götzendienst befreit. Gott musste sein Volk schlagen, anders kam es nicht zu Ihm zurück.

Allerdings war die Zerstörung Jerusalems für manche Israeliten mehr als ein züchtigendes Handeln Gottes, das eine Wiederherstellung zum Ziel hat. Denkt man z.B. an die vielen Toten, so war es für sie ein endgültiges Gericht.

Als Kinder Gottes müssen wir keine Angst mehr vor einer ewigen Bestrafung für unsere Sünden haben, denn „die Strafe zu unserem Frieden lag auf ihm [dem Herrn Jesus]“ (Jes 53,5). Dennoch können wir Gottes Zucht erleben. Er möchte uns zu einem geheiligten Leben in seiner Nähe führen, weil Er uns liebt.

Für eine Beschäftigung mit dem Thema „Zucht“ empfiehlt sich die Lektüre von Hebräer 12,4-11. Hier soll nur ein Aspekt dieser Belehrung genannt werden. Unsere Reaktion auf Gottes Zucht sollte zwei Extreme vermeiden – die Züchtigung zu missachten, oder unter ihr mutlos zu werden (vgl. Heb 12,5). Durch die Klagelieder hilft Jeremia seinem Volk, beiden Extremen auszuweichen. Einerseits deutet er die Zerstörung Jerusalems als ein Gericht Gottes, so dass jeder hinter dem babylonischen Angriff die Hand Gottes sehen muss. Gegen die Gleichgültigkeit setzt Jeremia die harte Wahrheit, dass der Herr sein eigenes Volk geschlagen hat und wie ein Feind für Israel geworden ist. Andererseits begegnet er der Verzweiflung, indem er oft dazu ermutigt, sich dem Herrn zuzuwenden, und an Gottes Treue erinnert.

Es gibt einen Weg zurück Schritte zur Wiederherstellung

Das Buch Klagelieder hat kein „Happy end“, sondern schließt mit der bangen Frage: „Oder solltest du uns ganz und gar verworfen haben, allzu sehr auf uns zürnen?“ (Klgl 5,22). In den Klageliedern lässt sich so kein vollständiger Handlungsbogen spannen vom Eingestehen der Sünde bis zur Wiederherstellung. Trotzdem finden sich wichtige Schritte, die zu einer Umkehr gehören und eine Wiederherstellung vorbereiten. Eine Wiederherstellung findet erst nach der babylonischen Gefangenschaft statt, in der Zeit des Tempelbaus unter Esra und des Wiederaufbaus der Stadtmauern unter Nehemia.

 

Schritte zur Wiederherstellung

Schritt“ des Volkes Klagelieder Gegenteilige Reaktion
Anerkennen, dass der aktuelle Zustand schlecht ist und es bessere Zeiten gab In den Tagen ihres Elends und ihres Umherirrens erinnert Jerusalem sich an alle ihre Kostbarkeiten, die seit den Tagen der Vorzeit waren. (1,7) Sich an einen schlechten geistlichen Zustand gewöhnen; nicht die Notwendigkeit einer Umkehr sehen
Erkennen, dass es Gott ist, der hinter dem Gericht steht Der Herr ist wie ein Feind geworden. Er hat Israel vernichtet … (2,5) Gottes Zucht als Schicksalsschläge deuten
Gott in seinem Handeln rechtfertigen Der Herr ist gerecht, denn ich bin widerspenstig gegen seinen Mund gewesen. (1,18) Versuch, sich selbst zu rechtfertigen und Fehler bei anderen und bei Gott suchen
Stillhalten und auf Gottes Hilfe warten Es ist gut, dass man still warte auf die Rettung des Herrn. (3,26) Versuch, sich selbst möglichst schnell zu helfen
Gottes Hilfe erbitten, Ihn um Heilung bitten … schütte dein Herz aus wie Wasser vor dem Angesicht des Herrn. (2,19) Die Hilfe bei sich selbst suchen
Selbstgericht / Bekenntnis Wir, wir sind abgefallen und sind widerspenstig gewesen ... (3,42) Wehe uns, denn wir haben gesündigt! (5,16) Schuld nicht bekennen oder bloß ein oberflächliches Bekenntnis ablegen.

 

Das Vorbild Jeremias Jeremia hätte stolz darauf sein können, dass die Zerstörung Jerusalems seine Gerichtsbotschaft bewahrheitete und die Prophezeiungen der falschen Propheten entlarvt wurden. Er hätte zwischen sich und dem Volk eine Linie ziehen können – ihr das ungehorsame Volk, ich der gehorsame Prophet Gottes. Doch trotz der ständigen heftigen Ablehnung durch sein Volk, verbindet sich Jeremia mit ihnen, indem er mit ihnen leidet und sich bemüht, sie wieder zu Gott zurückzuführen. In den Klageliedern verbindet sich die Stimme Jeremias mit der des Volkes zu dem Bekenntnis: „Wir haben gesündigt“ (Klgl 5,16).

In 3. Mose 18,28 wurde dem Volk Israel prophezeit, dass das Land sie ausspeien würde, wenn sie es verunreinigten. Das hat sich mit der babylonischen Gefangenschaft erfüllt: Das Volk musste ins Exil.

Auch über der Christenheit schwebt dieses Gericht, denn der laodizäische Gerichtsspruch des Herrn Jesus lautet: „Ich werde dich ausspeien aus meinem Mund“ (Off 3,16). Jeremias vorbildliches Handeln wirft die Frage nach unserem Verhalten in einer zunehmend christuslosen Christenheit auf. Wer die Entwicklungen innerhalb der Christenheit etwas mitverfolgt, wird viele Anlässe erkennen, Schuld zu bekennen. Allein schon das äußerliche Bild ist beschämend. Durch die große Anzahl von Trennungen innerhalb der Kirchengeschichte ist die Einheit der Gläubigen nahezu unsichtbar geworden. Ein trauriges Beispiel dafür bietet der 2007 herausgegebene „Atlas der christlichen Glaubensgemeinschaften“ für die Stadt Wuppertal – es bedarf eines Atlas, um sich in der christlichen Welt zu orientieren. Schaut man tiefer, in den inneren Zustand vieler christlicher Glaubensgemeinschaften, ist die Ernüchterung noch größer. Als Beispiel sei nur die weit verbreitete Bibelkritik genannt, die Liste falscher Lehren ließe sich aber noch beliebig erweitern.

Diejenigen, die sich Jeremia zum Vorbild nehmen, können für die Christenheit beten, die gemeinsame Schuld Gott bekennen, auf Fehlentwicklungen hinweisen und durch eine lebendige Beziehung zu Jesus Christus ein Hinweisschild auf ihren Herrn sein. Jeremia konnte seine eigenen Glaubenserfahrungen in den Klageliedern beschreiben, um das Volk daran zu erinnern, dass bei Gott Rettung ist (vgl. Klgl 3,55-58).

Trost im Buch Klagelieder

Die vielleicht bekanntesten Verse aus den Klageliedern sind Trostworte: „Es sind die Gütigkeiten des Herrn, dass wir nicht aufgerieben sind; denn seine Erbarmungen sind nicht zu Ende; sie sind alle Morgen neu, deine Treue ist groß. Der Herr ist mein Teil, sagt meine Seele; darum will ich auf ihn hoffen“ (Kap. 3,2224). Diese Worte kamen Jeremia nicht leicht über die Lippen. Da er selbst große Schmerzen hatte, musste er sich ganz bewusst vornehmen, auf Gottes Treue zu bauen. Gläubige haben diese Hilfe im Leid, sich auf Gott stützen zu können: „Der in Finsternis wandelt und dem kein Licht glänzt, vertraue auf den Namen des Herrn und stütze sich auf seinen Gott“ (Jes 50,10).

Nachdem Jeremia die tröstlichen Worte über Gottes Erbarmen und Treue genannt hat, kann er dem Volk die Frage erörtern, warum Gott Leid zulässt (vgl. Klgl 3,25-39). Weitere geistliche Hilfe gibt er seinem Volk dadurch, dass er sie ermutigt, ihre Klage vor Gott auszubreiten: „Mache dich auf, klage in der Nacht beim Beginn der Nachtwachen, schütte dein Herz aus wie Wasser vor dem Angesicht des Herrn.“ (Klgl 2,19) Und Jeremia begegnet dem Wunsch des Volkes nach Trost und nach Tröstern. Er bietet keine oberflächliche und schnelle Hilfe, sondern entfaltet in den Klageliedern das ganze Leid, damit Israel umkehrt und Trost bei Gott findet.

Philipp vom Stein