Bibelarbeit zu Psalm 139, 17-24

Bibelstudium

Bibelarbeit zu Psalm 139,17-24 (Teil 3)

Du hast mich erforscht und erkannt

Der 139. Psalm ist eine Perle der hebräischen Poesie. In seiner Ausdrucksweise ist er recht einfach zu verstehen, aber der Inhalt der einzelnen Verse ist enorm tiefgründig. Wir wollen versuchen, diesen Psalm im Licht des Neuen Testaments zu sehen - und werden erleben, wie interessant und aktuell dieser Psalm für Christen des 21. Jahrhunderts ist. Der dritte Teil der Studie zeigt, wie Davids Nachdenken über Gottes Allwissenheit, Allgegenwart und Schöpfermacht in einen Lobpreis über Gottes Gedanken, aber auch eine selbstkritische Bitte um Reinigung und Führung mündet.

„Wie köstlich sind mir deine Gedanken, o Gott! Wie gewaltig sind ihre Summen! Wollte ich sie zählen, sie sind zahlreicher als der Sand" (V. 17.18a).

Wie kommt der Psalmdichter jetzt zum Staunen über die Gedanken Gottes, wo es doch gerade noch um die Werke Gottes ging? Auf den ersten Blick ist das kaum zu verstehen. Aber so spricht nun einmal der souveräne Gott. Er kann in sein Wort Aussagen einfügen, die ich überhaupt nicht verstehe, jedenfalls nicht im Zusammenhang. Er kann in seinem Wort auch Dinge weglassen - und ich weiß nicht warum. Der Versuch, so etwas zu erklären, bleibt immer ein Versuch, mehr ist es nicht.

Der große und größte Gedanke Gottes - das ist Jesus, sein geliebter Sohn. Das war - in aller Ehrfurcht gesagt - der Gedanke, der Ihn bewegte und der sozusagen alles in Bewegung gebracht hat, was existiert („alle Dinge sind für ihn geschaffen") und was wir an Segnungen kennen und besitzen. Es gibt viele großartige Gedanken Gottes, die uns staunen lassen. Denken wir nur an Epheser 1,4 ff., wo uns gesagt wird, dass

  • wir auserwählt sind vor Grundlegung der Welt,
  • wir zuvor bestimmt sind zur Sohnschaft,
  • Er uns kundgetan hat das Geheimnis seines Willens,
  • wir in Ihm ein Erbteil erlangt haben usw.

Das sind großartige Gedanken Gottes, aber sie haben immer eine Motivation:„in Christus - in Ihm - in dem Geliebten". Der Gedanke schlechthin, der größte Gedanke ist der Herr Jesus selbst. Das ist der Gedanke Gottes, der Ihn bewegt hat. Und der sollte auch uns bewegen.

Wenn der zweite Versteil von „Summen" spricht, dann geht es - im mathematischen Sinn - ums Zählen, so wie der folgende Vers das bestätigt. Kann man denn diese Summen der Gedanken Gottes zählen? Die Schrift sagt: nein. Das leuchtet auch ein, denn wie kann man die Gedanken Gottes, die in sich unendlich sind, irgendwie aufnehmen oder zählen? Das ist unmöglich. Unendliches ist eben nicht messbar und nicht zählbar. Aber warum ist von „Summen" die Rede? Nehmen wir ein konkretes Beispiel: Gott sagt uns manches über das Kommen des Herrn. Das findet sich nicht alles an einer Stelle. Er sagt uns hier etwas und sagt uns dort etwas. Bei der einen Stelle legt er diesen Schwerpunkt auf den Gedanken, an der anderen Stelle einen anderen. Wir nehmen das wahr, lesen das, freuen uns daran und ziehen dann einen Strich: Wenn ich die Gedanken summiere, erkenne ich, was Gott überhaupt zur Wiederkunft Christi sagt. - Wie viele Stellen haben wir in der Schrift, oder wie viele Themen haben wir im neuen Testament, wo nur die Gesamtschau einen wirklichen Einblick, eine wirkliche Lehre vermittelt und nicht nur punktuell irgendeine Aussage. Gerade die Summe und das Zusammenspiel vieler großer Gedanken beeindrucken uns besonders. Das ist wohl der Sinn, wenn der Geist Gottes hier von „Summen" redet.

„Ich erwache und bin noch bei dir" (V. 18b).

Man hat den Eindruck, dass der Psalmist sich Tag und Nacht mit diesen Gedanken beschäftigt. Das hat ihn bewegt, das hat ihn nicht wieder losgelassen. Er wusste: „Selbst wenn ich nachts wach werde, steht das noch vor meinem geistigen Auge." Dabei fällt auf, dass er nicht etwa sagt: „Ich erwache und suche aufs neue deine Gemeinschaft." Er sagt eben: „Ich erwache und bin immer noch bei dir - ohne Unterbrechung." Eine sehr schöne Aussage des Psalmdichters. Körperlicher Schlaf oder überhaupt Körperliches dieser Art kann nie die Gemeinschaft unterbrechen - aber geistlicher Schlaf unterbricht sofort. Wir werden in der Schrift ja an mehreren Stellen vor dem geistlichen Schlaf gewarnt. Er hat für uns Christen tragische Konsequenzen. Die meisten Leser werden etwas davon kennen: Wir alle haben Perioden in unserem Leben, wo uns das Wort Gottes ziemlich gleichgültig ist. Und dann „schläft" man. Bei dem Psalmdichter war es nicht so. Das Studium der Gedanken Gottes brachte ihn in die Gemeinschaft mit Gott selbst.

„Möchtest du, o Gott, den Gottlosen töten! Und ihr Blutmenschen, weicht von mir! - Sie, die dich nennen zum Verbrechen, die zu Eitlem schwören, deine Feinde. Hasse ich nicht, HERR, die dich hassen, und verabscheue ich nicht, die gegen dich aufstehen? Mit vollkommenem Hass hasse ich sie; sie sind Feinde für mich" (V. 19-22).

Diese Verse sind im Zusammenhang wieder schwierig zu verstehen, da sie völlig unterwartet kommen. Das Thema als solches ist klar, und wir bejahen es zweifellos. Prophetisch gesehen geht es um das Tun Gottes am Ende der Tage, kurz vor dem Beginn des 1000-jährigen Reichs. Wir können gut nachvollziehen, dass Gott die Blutmenschen richten, dass Er die Gesetzlosen beseitigen wird, dass Er, mit einem Wort gesagt, Gericht vollzieht. Blutmenschen hat es immer gegeben. Im Alten Testament werden sie oft erwähnt, z.B. in Davids Umgebung: seine Verwandten, die Söhne der Zeruja, Joab und Abisai, die den Feldherrn Abner ermordet haben. Das waren solche Blutmenschen. Und auch David selbst hatte viel Blut vergossen - leider. Die Schrift sagt es ausdrücklich. Deswegen durfte er dem Namen des HERRN keinen Tempel bauen. Trotzdem wendet er sich entsetzt ab von der Kategorie „Blutmenschen". Mit ihnen will er nichts zu tun haben.

Wir kennen das ja heute auch. Manche Menschen verschwinden, werden umgebracht. Nie wieder hört man etwas davon. Aber es gibt eine Stelle in der Bibel, die Licht in diese Angelegenheiten bringt: „Denn siehe, der Herr tritt hervor aus seiner Stätte, um die Ungerechtigkeit der Bewohner der Erde an ihnen heimzusuchen; und die Erde enthüllt ihr Blut und bedeckt nicht länger ihre Ermordeten" (Jesaja 26,21). Dann wird man vieles verstehen, was die Erde heute noch bedeckt.

Kommen wir noch einmal zurück zu der Frage, was dieses Thema überhaupt für einen Zusammenhang mit Psalm 139 hat und speziell mit den Versen 17 und 18. Vielleicht kann man in aller Ehrfurcht folgende Überlegung anstellen: Wenn Gott so großartige Gedanken hat, wenn Er der allwissende, allgegenwärtige, allmächtige Gott ist, wenn Er heilig und gerecht ist, wie kann Er dann Böses hinnehmen und ungestraft hingehen lassen? Wie kann das sein? Das ist eine Frage, die die Gläubigen aller Zeiten beschäftigt hat. Man liest sie bei Hiob, man liest sie in Psalm 73 bei Asaph und auch im Propheten Habakuk. Warum, warum, warum? - so fragen diese Menschen immer. Gott gibt keine Antwort. Und das ist eine ernste Sache. Vielleicht kann man sie verbinden mit dem Geheimnis Gottes in Offenbarung 10. Es bleibt ein Geheimnis, dass der gerechte Gott schweigt, wenn das Böse floriert. Und doch lesen wir in der Schrift, dass das eines Tages ein Ende hat. Wir lesen in Offenbarung 10,7, dass dieses Geheimnis Gottes einmal vollendet sein wird. Das wird sein, wenn der Herr Jesus wiederkommt und dann auf der Erde Gerechtigkeit herrscht. Eine Erde ohne Kriege, ohne Elend und ohne alles das, was uns heute so viel Not macht.

Wir haben versucht eine Antwort zu finden auf die Frage, warum diese Verse 19-22 hier an dieser Stelle eingefügt sind. Ob das die richtige Antwort ist, bleibt letztlich offen. Was allerdings richtig und wichtig ist - dass das Böse nicht nur eine abstrakte Idee ist. Nein, es äußert sich ganz konkret und wird auch entsprechend gerichtet.

„Erforsche mich, Gott, und erkenne mein Herz; prüfe mich und erkenne meine Gedanken! Und sieh, ob ein Weg der Mühsal bei mir ist, und leite mich auf ewigem Weg!" (V. 23.24).

Die letzten Verse bilden den moralischen Höhepunkt dieses Psalms. Sie enthalten die einzigen Bitten des Psalms, wenn man von Vers 19a absieht. Man könnte sich hier fragen: Warum eigentlich diese Bitte, wenn Gott doch sowieso alles erforscht und kennt (vgl. V. 1)? Die Antwort ist einfach: Wir kennen uns, unser Herz und unsere Gedanken zu wenig; wir sehen oft nicht den „Weg der Mühsal" und auch nicht den „ewigen Weg". Das ist der Grund, warum wir Gott in Demut bitten möchten: Zeige mir das doch bitte. Das sollte für uns eine tägliche Bitte sein. Hat uns das nicht viel zu sagen, dass der Psalm so endet?

Wir wissen genau - und David hat sicher genauso gedacht -, dass ich das Böse bei den anderen schnell erkenne. Was in den Versen 19-22 steht, ist klar: Das sind böse Leute. Das sieht man auf Anhieb. Aber in Bezug auf das Böse bei mir selbst funktioniert das nicht von vornherein, da brauche ich Gottes „Nachhilfe". Der Herr Jesus brachte es damals auf den Punkt: Den Splitter im Auge des anderen erkennt man sofort, aber den Balken im eigenen Auge übersieht man leicht (Mt 7,3). Den zu erkennen erfordert manchmal größte Mühe.

Wie wichtig ist uns eigentlich noch das Selbstgericht? Gibt es jemanden, der sich abends auf die Schultern klopfen kann und behaupten kann, dass er heute nicht gesündigt habe? Kann ich das von mir sagen? - Gott will uns in seine Gemeinschaft bringen. Doch wie oft muss Er uns vorher zum Selbstgericht bringen? Und weil wir darin träge sind, hilft Er uns dabei. Unsere eigenen Vorstellungen sind oft unscharf und unvollständig. Aber wenn wir aufrichtig sind, dann lernen wir verstehen, was Er uns doch eigentlich sagen und zeigen will. Dann lerne ich eben nicht nur das Böse bei anderen zu sehen, sondern suche es zuerst bei mir selbst.

In Psalm 19,12 sagt David: „Von verborgenen Sünden reinige mich." Diese Bitte geht sehr weit. Sie umfasst nicht nur Sünden, die ich vergessen habe, oder an die ich nicht gedacht habe, sondern auch solche, die ich noch gar nicht als Sünde eingestuft habe.

Paulus sagt einmal: „Ich bin mir selbst nichts bewusst" (1. Kor 4,4a), d.h. ich weiß nicht wo ich gesündigt habe. Aber das bedeutete für ihn nicht zwingend, dass seine Motive Gottes Billigung hatten.

Deshalb fügt er hinzu: „Aber dadurch bin ich nicht gerechtfertigt. Der mich aber beurteilt, ist der Herr" (V. 4b). Das ist ernst und tröstlich zugleich. Ernst, weil mein Inneres Ihm völlig bekannt ist; tröstlich, wenn andere bei mir etwas „voreilig" beurteilen (vgl. V. 5).

Wir wollen dankbar dafür sein, dass der Herr uns nicht laufen lässt und uns immer wieder korrigieren will. Das geschieht durch ein Bibelwort oder durch Hinweise von Geschwistern, manchmal auch durch belastende Umstände. Wie auch immer - je öfter wir durch sein Wirken entdecken, was an Schlechtem in unseren Herzen ist, umso mehr werden wir das Selbstgericht suchen und umso weniger vor Ihm verbergen wollen. Unser Wunsch wird sein: „Erforsche mich, Gott, und erkenne mein Herz." Oder wie Hiob es einmal formuliert hat: „Was ich nicht sehe, zeige du mir" (Hiob 34,32).

Wie freut sich der Herr, wenn Er mit uns uneingeschränkte Gemeinschaft haben kann. Das ist sein größter Wunsch - auch mit diesem Psalm. Er lässt uns durch Davids Augen die Allgegenwart, Allmacht und Schöpferherrlichkeit Gottes bewundern. Wir staunen über die Größe der Werke, der Gedanken und Gottes selbst. Uns macht das ganz klein, führt uns die Notwendigkeit des Selbstgerichts vor Augen und lässt uns bitten, dass wir in unserem persönlichen Leben seine Wege erkennen.

Nach einem Vortrag von Klaus Sander