Bibelarbeit zu Psalm 139, 1-6
Bibelarbeit zu
Psalm 139,1-6 (Teil 1)
Du hast mich erforscht und erkannt
Der 139. Psalm ist eine Perle der hebräischen Poesie. In seiner Ausdrucksweise ist er recht einfach zu verstehen, aber der Inhalt der einzelnen Verse ist enorm tiefgründig. Wir wollen versuchen, diesen Psalm im Licht des Neuen Testaments zu verstehen – und werden erleben, wie interessant und aktuell dieser Psalm für Christen des 21. Jahrhunderts ist.
Der Inhalt des Psalms
Der Leitgedanke dieses Psalms ist eine Art Variation über das Thema: „Gott sieht mich und kennt mich“ oder anders gesagt: „Gott hat mich erforscht und hat mich erkannt.“ Beim Lesen merken wir, dass der Psalmist dieses Thema unter verschiedenen Gesichtspunkten und mit unterschiedlichen Schwerpunkten erörtert. Außerdem bekommt man den Eindruck, dass jeder ganz persönlich angesprochen ist. Bei wem das nicht der Fall ist, der hat einen ganz wesentlichen Punkt von vornherein nicht mitbekommen. Denn genau darin besteht Gottes Absicht mit diesem Psalm: Er möchte uns in Gemeinschaft und in Übereinstimmung mit sich selbst bringen. Gerade das Bewusstsein von Gottes Allgegenwart, Allwissenheit und Allmacht beschäftigt den Dichter. Er sagt gewissermaßen: „Ich bin unentrinnbar in Gottes Griff. Ob ich mich nach links oder nach rechts wende, nach hinten oder nach vorne – ich laufe Ihm nur wieder direkt in seine Hand. Und diese Hand liegt zugleich auf mir. Und es ist dieselbe, die mich geformt hat im Leib meiner Mutter.“ So entwickelt sich ein Gedanke aus dem anderen. Es geht weiter: Der Gott, der meine Vergangenheit kennt, kennt meine Gegenwart und auch meine Zukunft. So schließt der Psalm mit zwei Bitten, die man den moralischen Höhepunkt des ganzen Psalms nennen kann. Mit anderen Worten zusammengefasst lauten sie:
„Gott, erleuchte meine Gegenwart“ (V. 23).
„Gott, leite mich in meiner Zukunft“ (V. 24).
Merken wir, wie der Herr auf diese Weise beabsichtigt, uns tiefer in die Beziehung mit Ihm einzuführen?
Der natürliche Mensch ohne eine solche Beziehung zu Ihm wird beim Lesen dieses Psalms erschrecken, wenn er ehrlich ist. Der Text berichtet vom allwissenden, allgegenwärtigen und allmächtigen Gott. Er kennt mich in jeder Beziehung. Man hat überhaupt keine Chance, irgendwie auszuweichen, geschweige denn zu entweichen. Und dieser Gott lässt nicht mit sich handeln. „Ist das nicht ein furchtbarer Gott, den ihr Christen habt?“, wird der Ungläubige ausrufen. Ja, in der Tat, wer vor Gott flieht, dem wird es einmal furchtbar sein, „in die Hände des lebendigen Gottes zu fallen“ (Heb 10,31).
Aber wer Ihn, den großen Gott, sieht, wie wir Christen ihn sehen dürfen, ist dankbar, dass Er zugleich der Gott der Liebe, der Gott allen Trostes, der Vater der Erbarmungen ist. Und wenn wir den großen Gott in der Person des Herrn Jesus sehen, dann ist es auch der Allgegenwärtige, der gesagt hat: „Ich bin bei euch alle Tage bis zur Vollendung des Zeitalters“ (Mt 28,20). Unser Herr – der Allmächtige. Er ist derjenige, der alles geschaffen hat, und zugleich ist Er dieser Jesus von Nazareth, der Säugling von Bethlehem. Unter diesem Gesichtspunkt erhält der Psalm eine besondere Bedeutung für die Gläubigen der Gnadenzeit.
In Psalm 139 erwarten wir keine theologische, philosophische, tiefgründige Erörterung. Er ist recht einfach gehalten. Es geht schlicht um einen Menschen, der zu seinem Gott spricht: Er denkt gründlich über Gott nach, legt Ihm seine Überlegungen vor und endet dann ganz zum Schluss mit zwei konkreten Bitten (V. 23.24). Das ist sehr interessant, besonders weil David, der Psalmschreiber oder Psalmsänger (ein Psalm wurde ja gesungen), meist ganz anders spricht. Wie oft geht es bei ihm um Drangsal, Befreiung, Not und Lobpreis! So kennen wir sein Leben und seine Psalmen. Aber hier findet man nichts von alledem.
Es gibt übrigens noch ein Thema, das David in einigen Psalmen verarbeitet hat, weil es ihn beschäftigt hat: Das Thema Sünde. Wenn wir daraufhin unseren Psalm untersuchen, stellen wir fest, dass dieser Gedanke wohl vorhanden ist, jedoch mehr „bei den anderen“. David erwähnt in den Versen 19-22 Mörder und Verbrecher. Von ihnen will er sich deutlich distanzieren und sie hassen. Und plötzlich spricht er in den beiden nächsten Versen wieder von sich und äußert die bereits erwähnten Bitten„erforsche mich – prüfe mich“. Wie ist das zu erklären? Will er nicht darauf hinweisen, dass es in unserem Leben weniger auf die Sünden bei anderen ankommt als vielmehr auf die Sünden bei mir? Das ist der springende Punkt in diesem Psalm: Der Herr will mich ins Selbstgericht führen, damit ich dann wieder ganz in Übereinstimmung und in Gemeinschaft mit Ihm bin.
Die Struktur des Psalms
Um bei der Erläuterung der einzelnen Verse den roten Faden nicht zu verlieren, ist es hilfreich, sich die Struktur des Psalms vor Augen zu halten:
1. Gott ist allwissend (V. 1–6).
2. Gott ist allgegenwärtig (V. 7–12).
3. Gott ist der allmächtige Schöpfer (V. 13–16).
4. Die großartigen Gedanken Gottes (V. 17.18).
5. Die Gesetzlosen (V. 19–22).
6. Das Selbstgericht (V. 23.24).
Ein Psalm also, der in seiner Linienführung klar ist, aber ein Psalm, der es „in sich hat“. Ein Psalm, über den man nachdenken sollte.
„Herr, du hast mich erforscht und erkannt!“ (V. 1).
Besteht hier vielleicht ein Zusammenhang mit dem letzten Vers aus dem vorhergehenden Psalm 138? Dieser Psalm ist ebenfalls von David. Er endet mit einer Bitte: „Lass nicht die Werke deiner Hände!“ (V. 8). Eins dieser Werke der Hände Gottes war David selbst. Insofern könnte man sich vorstellen, dass David den Gedanken in Psalm 139 fortsetzt, insbesondere wenn er über den Schöpfungsakt im dritten Teil dieses Psalms staunt.
„Du hast mich erforscht und erkannt (oder: du erforschst und kennst mich)!“ Natürlich braucht Gott keine Forschungen anzustellen, und Gott braucht auch keine Erkenntnisse zu sammeln. Doch gibt es auch andere Stellen in der Bibel, die ähnliche Formulierungen enthalten. Eine bekannte davon ist Jeremia 17,9–10: „Arglistig ist das Herz, mehr als alles, und verdorben ist es; wer mag es kennen? Ich, der Herr, erforsche das Herz und prüfe die Nieren, und zwar um einem jeden zu geben nach seinen Wegen.“ Auch hier geht es um das Erforschen und Prüfen durch Gott, der alles kennt. Ein paar Kapitel vorher drückt sich Jeremia ganz ähnlich aus: „Du aber, Herr, du kennst mich, du siehst mich und prüfst mein Herz gegen dich“ (Kapitel 12,3). Der Herr Jesus selbst verwendet – prophetisch gesprochen – auch ganz ähnliche Ausdrücke: „Du hast mein Herz geprüft, hast mich bei Nacht durchforscht; du hast mich geläutert – nichts fandest du; mein Gedanke geht nicht weiter als mein Mund“ (Ps 17,3).
In allen Stellen begegnet uns der Gedanke: „Du kennst mich, du siehst mich, ich kann nichts vor dir verbergen“. Gott hat mich also unentrinnbar im Griff, wenn man so sagen darf.
Der erste Vers kann auch unter einem anderen Aspekt gelesen werden: Gott befasst sich mit mir – und das ist staunenswert. Er ist für uns alle, für dich und für mich, kein entfernter Gott. Er ist nicht ein Gott, der sich nach der Schöpfung in den Himmel zurückgezogen hat und die Welt samt den Menschen ihrem Lauf überlässt. Nein, Gott beschäftigt sich mit mir. Ich bin erlöst, habe Vergebung meiner Sünden1 – nicht Sündenvergebung in der Masse, im Paket mit anderen zusammen, sondern ich besitze sie ganz persönlich. Gott kümmert sich um den Einzelnen. Er hätte es auch anders machen können, indem er mit der Menschheit im Allgemeinen hätte reden können. Aber nein, Er kümmert sich um mich persönlich. Und das ist die Botschaft von Psalm 139.
„Du kennst mein Sitzen und mein Aufstehen, du verstehst meine Gedanken von fern“ (V. 2).
Von jeder Bewegung nimmt Gott Notiz. Wir können Ihm nicht das Kleinste vormachen – auch nicht in Gedanken! Die Gedankenwelt ist ein unüberschaubar großer Bereich. Was denken wir nicht alles! Wir haben geheime Gedanken, wir haben böse und gute Gedanken. Wir haben auch Gedanken, die unwesentlich sind, über die man weiter nicht redet. Manchmal überlegen wir uns auch Tricks, haben Strategien. Gott kennt das alles.
Es gibt auch Gedanken, die geäußert werden, die von anderen gar nicht verstanden oder gar falsch gedeutet werden. Wir werden wiederholt missverstanden. Doch einer ist da, nämlich unser Herr, der weiß, was wir wirklich gemeint haben. Auch in diesem Sinne versteht Er unsere Gedanken von fern. Eine ungemein tröstliche Aussage. So furchterregend es für einen Ungläubigen ist, dass Gott meine Gedanken von fern kennt, so eindrucksvoll und schön ist es für mich als Kind Gottes, wenn ich das lese.
„Du sichtest mein Wandeln und mein Liegen und bist vertraut mit allen meinen Wegen“ (V. 3).
„Sichten“ kann auch mit sieben, prüfen, messen wiedergegeben werden. Und genau das ist hier gemeint. Gott sichtet mein Wandeln und Liegen, Er prüft und wägt es.
Beachten wir, dass das Sitzen in Vers 2 sich zu einem Liegen in Vers 3 fortentwickelt und das Aufstehen in Vers 2 zu einem Wandel in Vers 3. Hier ist eins von vielen Beispielen, das uns die interessante Struktur des Wortes Gottes zeigt. Nicht nur was Gott mitteilt ist beeindruckend, sondern auch wie Gott etwas sagt.
Dann heißt es weiter: „Du bist vertraut mit allen meinen Wegen“.
Seien wir ganz offen und ehrlich bei dieser Aussage. Sind wir gern selbstkritisch vor unserem Gott? Unsere menschliche Natur liebt das nicht. Wir sind alle mehr geneigt, Anerkennung von anderen zu suchen und zu haben, als uns selbstkritisch vor Gott prüfen zu lassen. Wie viel Doppelherzigkeit gibt es in meinem Leben, wie viel Stolz und Neid! Gern wird das verdrängt. Doch wenn Gott siebt, dann bleibt oft nicht viel übrig von unseren Werken. Nur das bleibt übrig, was von Gott selbst ist. Alles andere ist eigentlich wertlos für Ihn – auch wenn wir meinten, das Beste gegeben zu haben. Manchmal lieben wir sogar Anerkennung und Lob für das, worüber wir uns eigentlich vor Gott demütigen müssen, weil es in seinen Augen befleckt ist.
Das trifft auch auf den Dienst für den Herrn zu. Müssen wir nicht auch manchmal die Wertlosigkeit und Armut einsehen, wenn wir vor dem Herrn stehen und uns selbstkritisch vor Ihm prüfen? Wir mögen große Worte sagen, auch oft große Worte in Gebeten finden. Hat alles bleibenden Bestand, wenn Er aussiebt?
Wie Selbstkritik im Dienst für den Herrn aussehen kann, demonstriert Markus 6. Die Jünger waren mit glänzenden Fähigkeiten ausgerüstet worden: Sie predigten, hatten Gewalt über unreine Geister und konnten heilen (vgl. Verse 7–13). Dann kommen sie zurück und sind erfüllt von sich bzw. ihren Werken. Das kann man gut nachvollziehen. So „versammelten sich die Apostel bei Jesus; und sie berichteten ihm alles, was sie getan und was sie gelehrt hatten“ (V. 30). Die Lektion ist klar: Wenn der Herr uns schenkt, etwas für Ihn zu tun, dann sollten wir auch anschließend mit Ihm darüber sprechen. Manchmal bleibt vielleicht weniger übrig, als wir meinten. Wie auch immer – wichtig ist, dass Er uns in die Stille führen kann, damit wir Ihn und uns besser kennen lernen.
„Denn das Wort ist noch nicht auf meiner Zunge, siehe Herr, du weißt es ganz“ (V. 4).
Vers 4 geht dann noch einen Schritt weiter: In Vers 2 sind es die „Ge- danken“, in Vers 3 die „Wege“, in Vers 4 das „Wort“, die Gottes Prüfung unterliegen. Die „Klammer“, in der wir uns befinden, wird immer enger. Wir wissen, welche Gewalt die Zunge hat und welche Worte oft über unsere Lippen kommen: Unbedachte, schneidende und böse Worte. Worte, mit denen man so operiert, dass beim anderen etwas zerbricht. Unser Mund ist eine ganz gefährliche Waffe – in der Hand des Feindes. Und das weiß eben auch der Herr. Er kennt jedes Wort, das ich über meine Lippen bringe. Jeremia drückt es so aus: „Was von meinen Lippen ausging, war vor deinem Angesicht“ (Jer 17,16). Einer seiner Vorgänger, der große Prophet Jesaja, war auch berührt, wenn es um seine Lippen ging. „Ich bin ein Mann mit unreinen Lippen“ (Jes 6,5), sagt er. Müssen wir uns vielleicht auch (manchmal) in diese Kategorie von Leuten mit praktisch unreinen Lippen einsortieren?
Von hinten und von vorn hast du mich eingeengt und deine Hand auf mich gelegt“ (V. 5).
Vers 5 geht noch etwas weiter. Erst die Gedanken, dann die Wege, dann die Worte und jetzt hat Gott die ganze Person im Griff. Es ist wie in einer eingeschlossenen Stadt: Man kann nicht herauskommen. Von vorn, von hinten und von oben – ganz eng. Und doch erdrückt und erstickt Gott niemanden. Das, was für einen Ungläubigen eine Bedrückung ist, wird für uns zu einer Befreiung. Denn von derselben Hand, die sich auf mich legt, spricht Johannes in Offenbarung 1,17: „Und er legte seine Rechte auf mich und sprach: Fürchte dich nicht!“ Damit wird die Enge zu einem Schutz. Von Gott geschützt zu sein – man kann sich nichts Besseres vorstellen. Ich bin ganz nah bei Ihm, unter dem Schutz und Schirm seiner Hand. Wir sehen, dass der Psalm Gedanken entfaltet, die uns wirklich sehr glücklich machen können. Das ist eine glückliche „Gefangenschaft“, ein glückliches Eingeengtsein. Wer die richtige Sicht für dieses Eingeengtsein hat, wird nicht wieder heraus wollen.
Andererseits entdeckt man beim Lesen der Psalmen, dass David auch von einer Weite spricht. Gott hatte seine Füße in einen „weiten Raum“ gestellt (vgl. Ps 119,45). Hier eingeengt – und anderswo die große Weite. Ist das nicht ein Widerspruch? Wie kann man diese scheinbare Paradoxie erklären? Wir sind Menschen, die „Gefangene“ Christi sind, glücklich in seiner „Gefangenschaft“. Zugleich sind wir Menschen, die glücklich sind in einer wahren Freiheit. Der Christ ist ein Mensch, der so eng gebunden ist an das Wort Gottes wie nur irgendetwas. Gefangen! Und der Christ ist andererseits ein Mensch, der so frei ist, wie man sich das nur vorstellen kann. Hier steht die glückliche Gefangenschaft im Vordergrund. Genauso wertvoll ist der Gedanke der glücklichen Freiheit.
„Kenntnis, zu wunderbar für mich, zu hoch: Ich vermag sie nicht zu erfassen!“ (V. 6).
Der fünfte Vers scheint einer der Höhepunkte zu sein in diesem Psalm. David kommt darüber ins Staunen. Das geschieht übrigens in diesem Psalm nicht nur einmal. Wir werden sehen, dass David später noch zweimal ins Staunen kommt. Wenn Gott seine Gedanken äußert, ist das immer zu hoch für uns. So empfindet es auch David. Er kann die Allwissenheit und das Tun Gottes nicht ergründen.
Verstehen wir, warum wir errettet sind? Verstehst du, warum du errettet bist? Warum hat ausgerechnet mich und dich der große Gott gerufen? Schon vor Grundlegung der Welt auserwählt, lange bevor auch nur ein Quäntchen von Sünde in diesem Universum war – das können wir nicht verstehen. Das ist so großartig, dass man dann ins Staunen gerät.
1 Ich versuche immer wieder den Bezug zum Neuen Testament herzustellen. Vieles hat David – der das Thema der Sündenvergebung kannte (Ps 32,1) – sicher nicht so empfunden wie wir, die heute in der Zeit der Gnade den ganzen Ratschluss Gottes kennen dürfen. Aber das ist ja gerade das Besondere, dass wir die Schrift auf unsere Zeit und Situation anwenden dürfen.
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