Bibel praktisch

Paulus in Athen

Athen, mit über 3 Millionen Einwohnern heute die bei weitem größte Stadt Griechenlands, war im ersten Jahrhundert unserer Zeitrechnung ein politisch und wirtschaftlich bedeutungsloses Städtchen von 5000 Einwohnern, das seine Blütezeit bereits hinter sich hatte. 500 Jahre zuvor war es das Handels- und Wissenschaftszentrum Griechenlands gewesen, jetzt lebte es nur noch von seiner großen Vergangenheit; längst hatte Ko-rinth seinen Platz als Metropole einge-nommen. Unter den Gebildeten des damaligen Römischen Reiches genoß die Stadt trotzdem noch immer einen guten Ruf - zum einen wegen ihrer großen geistigen Tradition, die schon damals zahlreiche Bildungstouristen anzog, zum anderen wegen der großen Philosophenschulen, die dort ihren Sitz hatten. Außerdem galt Athen wegen seiner vielen Tem-pel, Altäre, Kultbilder und Feste als frömmste Stadt Griechenlands; der römische Schriftsteller Plinius berichtet, daß es dort etwa 3000 Götterbilder gegeben habe.

Mit dieser Frömmigkeit wurde auch Paulus zuerst konfrontiert, als er im Verlauf seiner zweiten Missionsreise (ca. 51-54 n. Chr.) nach Athen kam: Er sah die Stadt „voll von Götzenbildern" (Apg 17,16). Doch anders als die Bildungstouristen damaliger und heutiger Zeit betrachtete er diese kunstvollen Altäre und Statuen nicht mit Bewunderung, sondern mit Abscheu, zeigten sie doch, wie sehr die Stadt im Götzendienst versunken war. Um die Bevölkerung mit dem Evangelium bekannt zu machen, unterredete er sich zunächst nach seiner Gewohnheit mit den Juden in der Synagoge und mit den „An-betern" (d. h. mit gottesfürchtigen Nicht-juden, die sich zur Synagoge hielten, ohne sich beschneiden und in die Gemeinde Israels aufnehmen zu lassen). Daneben sprach er aber auch auf dem Markt mit denen, „die gerade herzuka-men" (Vers 17). Der Marktplatz bildete damals das Zentrum des öffentlichen Lebens, auch des geistigen; hier konnte jeder frei reden, und das Auftreten philosophischer und religiöser Wanderprediger war nichts Ungewöhnliches.

Als Paulus nun dort das Evangelium von Jesus Christus verkündigte, kam er bald auch mit epikuräischen und stoischen Philosophen ins Gespräch (Vers 18). Die Epikuräer waren Anhänger einer Philosophenschule, die 306 v. Chr. von Epikur in Athen gegründet worden war. Für sie lag der Sinn des Lebens im ungestörten Le-bensgenuß, zu dem auch geistige Freuden und Freundschaft gehörten und den man in beschaulicher Zurückgezogenheit und nicht zuletzt durch rechtes Maßhalten in Begierde und Lust zu erreichen suchte. Da nach Auffassung Epikurs alle Furcht vor dem Göttlichen die Lebensfreude be-einträchtigt, lehnte er ein ewiges Leben sowie die göttliche Lenkung der Welt als Aberglauben ab. Bei den Stoikern (der Name geht auf die Stoa Poikile zurück, eine bunt ausgemalte Säulenhalle in Athen, wo Zenon von Kition, der Gründer dieser Philo-sophenschule, lehrte) stand dagegen die Ethik, die Lebenslehre im Vordergrund. Das Glück des Menschen sei im rechten Handeln zu finden, und zu diesem gehörten vor allem Gerechtigkeit, Einsicht, Mut, Pflichterfüllung im Dienst an anderen sowie Beherrschung der Gefühle und Triebe durch die Vernunft. Die Welt sei von Gott (verstanden als eine Art Vorsehung oder Schicksal) geschaffen und bisher erhalten worden; sie werde jedoch am Ende durch Feuer zugrundegehen. - Neben diesen beiden Schulen gab es in Athen zwei weitere philosophische Richtungen, nämlich die Peripatetiker (Aristoteliker) und die Akademiker (Platoniker); allerdings hatten zu jener Zeit nur die Stoiker noch nennenswerte Bedeutung.

Die Verkündigung des Evangeliums durch Paulus stieß bei Epikuräern und Stoikern auf unterschiedliche Resonanz. Die einen hielten ihn für einen „Schwätzer", die anderen für einen „Verkündiger fremder Götter" (Vers 18). Der mit „Schwätzer" übersetzte Ausdruck bedeutet wörtlich „Körnerpicker" - ein damals geläufiges Spottwort, mit dem man Menschen be-zeichnete, die ohne eigenes Denken und ohne systematische Klarheit hier und dort einige Lehren aufgenommen hat-ten, die sie dann als ihre eigenen ausgaben. Diejenigen, die Paulus einen „Verkündiger fremder Götter" nannten, spielten damit vielleicht auf die gegen den Philosophen Sokrates erhobene Anklage, „neue" Götter in Athen einführen zu wollen - was dort verboten war und zum Teil mit dem Tod bestraft wurde -, an. Wie es scheint, hielt man nämlich „Jesus und Anastasis" (griech. für „Auferstehung") für die Namen zweier neuer orientalischer Kultgott-heiten (darauf deutet die Plural-form „Götter" hin) und Paulus für einen Propagandisten dieses obskuren Kults. Um mehr darüber zu erfahren, führte man Paulus zum Areopag (Vers 19.). Damit ist wahrscheinlich der oberste athenische Gerichtshof gemeint, der zuerst auf dem nordwestlich der Akropolis gelegenen Areshügel, später jedoch in der Stoa Basileios am Marktplatz zusammenkam (zu neutestamentlicher Zeit war er nur noch für Religions- und Erziehungsan-gelegenheiten zuständig). Wenn Paulus sich vor diesem Gremium zu verantworten hatte, so könnte dies bedeuten, daß man in seiner neuen Lehre eine Gefahr für die öffentliche Ordnung sah; der 21. Vers deutet allerdings darauf hin, daß die Athener noch etwas anderes antrieb: ihre sprichwörtliche Neugierde, die sie für alles Unbekannte und Ungewöhnliche aufgeschlossen machte.

Paulus begann seine Rede mit einigen Bemerkungen über die Eindrücke, die er während seines Aufenthalts in Athen gewonnen hatte. Bei seinem Rundgang durch die Stadt hatte er festgestellt, daß die Athener „in jeder Beziehung den Göttern sehr ergeben" waren (Vers 22; er verwendet hier ein neutrales Wort, das sowohl Frömmigkeit als auch Aberglauben einschließt). Dies wurde nicht zuletzt daran deutlich, daß sie auch einen Altar mit der Aufschrift „Dem unbekannten Gott" errichtet hatten (Vers 23). Daß es in Athen Altäre gegeben hat, die „unbe-kannten Göttern" geweiht waren, wird von verschiedenen antiken Schriftstellern bestätigt; der Grund für die Aufstellung solcher Altäre lag vermutlich darin, daß man sichergehen wollte, keinen Gott bei der kultischen Verehrung zu übersehen und sich dadurch seinen Zorn zuzuziehen. An diese Altarinschrift knüpfte Paulus nun an, indem er sie auf den einen, den wahren Gott bezog, den er den Athenern verkündigen wollte.

Auch im weiteren Verlauf seiner Rede ging er in hohem Maße von den geistigen Voraussetzungen seiner Zuhörer aus: Viele seiner Aussagen über das Wesen Gottes stimmten durchaus mit ihren Vorstellungen überein, insbesondere mit denen der Stoiker, die einem philosophischen Monotheismus' zuneigten. So konnten sie etwa die Behauptung, daß Gott nicht in mit Händen gemachten Tempeln wohne (Vers 24), ohne weiteres bejahen, hatte doch schon Zenon von Kition, der Begründer der stoischen Philosophenschule, gelehrt, daß ein von Menschen erbauter Tempel sich nicht zum Wohnsitz der Gottheit eigne; ähnlich urteilten andere Philo-sophen, darunter Diogenes von Sinope, Poseidonios, Seneca und Epiktet. Auch das Motiv der Bedürfnislosigkeit Gottes, das Paulus danach ansprach (Vers 25), war in der griechischen Philosophie verbreitet (es findet sich u. a. bei Xenopha-nes, Parmenides, Euripides, Antiphon, Platon, Diogenes, Plutarch, Lukian und Plotin). Ebenso konnten die Athener den Ausführungen über die Nähe Gottes zu den Menschen (Vers 27f.) weitgehend zu-stimmen, um so mehr als sich Paulus dabei sogar eines griechischen Dichterzitats bediente: Der Satz „Denn wir sind auch sein Geschlecht" (Vers 28) stammt aus dem zu jener Zeit sehr berühmten astronomischen Lehrgedicht Phainomena des Dichters Aratus von Zilizien (ca. 310-240 v. Chr.). Allerdings verwendete Paulus das Zitat nicht in seinem vom Dichter gemeinten Sinn als Beleg für die natürliche Gottesverwandtschaft des Menschen, sondern er deutete es im christlichen Sinne um: Der Mensch ist von Gott geschaffen und hängt in seiner ganzen Existenz von Ihm ab.

Damit ist jedoch zugleich auch gesagt, daß Paulus sich bei seinem Versuch, die Athener für Christus zu gewinnen, nicht bedingungslos ihren (im wesentlichen pantheistischen?) Vorstellungen anpaßte, sondern ihnen nur bis zu einem gewissen Grad entgegenkam. Er ging zwar zunächst von ihren Anschauungen und Überzeugungen aus, doch dann schritt er von diesem gemeinsamen Boden aus weiter, um ihnen die volle christliche Wahrheit zu verkündigen. Dabei verschwieg er auch keineswegs Dinge, die den Athenern fremdartig oder unsinnig vorkommen mußten. Schon vorher hatte er mit den Behauptungen, daß Gott die Welt erschaffen habe (Vers 24) und daß alle Menschen von einem einzigen (näm-lich Adam) abstammten (Vers 26), ihren Auffassungen widersprochen - die Epikuräer glaubten, die Welt sei aus einer Art Atomwirbel entstanden, und die Völker des Altertums allgemein waren der Ansicht, jedes Volk habe seinen eigenen Ursprung (die Athener beispielsweise meinten, sie seien aus der Erde Attikas hervorgegangen). Besonders fremd muß-te den Zuhörern freilich der Schlußteil der Rede erscheinen, in dem Paulus auf den eigentlichen Kern der christlichen Botschaft zu sprechen kam - den Aufruf zur Buße und die Ankündigung des Gerichts (Vers 30f.). Mit der Verkündung dieser Botschaft waren für die Athener - so Paulus - die „Zeiten der Unwissenheit" über den wahren Gott vorüber; ihr früherer Götzendienst würde jedoch ungestraft bleiben, wenn sie das Evangelium von Jesus Christus, den Gott aus den Toten auferweckt hatte und der einst die Welt richten würde, annähmen. Dieser Gedanke nun war mit der griechischen Philosophie in keiner Weise mehr zu vereinbaren - die Griechen glaubten zwar an die Unsterblichkeit der Seele, aber eine Auferstehung des Körpers erschien ihnen absurd, hielt man doch nicht einmal die Götter für fähig, Tote aufzuerwecken oder auch nur den für einen Menschen festgesetzten Tod abzuwenden. Ein Teil der Zuhörer reagierte deshalb mit offenem Spott; andere, die vielleicht nachdenklich geworden waren, wollten Paulus zu einem späteren Zeitpunkt nochmals über dieses Thema hören (Vers 32). Von einer weiteren Unterredung wird uns freilich nichts berich-tet; man kann daher annehmen, daß auch diese Gruppe von Zuhörern nicht ernsthaft interessiert, sondern nur höflicher war als die zuerst genannte. Nur wenige Personen schlossen sich Paulus an und glaubten, darunter Dionysius, ein Areopagit (d. h. ein Mitglied des Gerichtshofs und damit ein Mann von hohem gesellschaftlichem Rang), und eine Frau namens Damaris (Vers 34).

Bald darauf verließ Paulus Athen (Kap. 18,1); die Stadt wird im weiteren Verlauf der Apostelgeschichte nicht mehr er-wähnt. Auch in den Briefen findet sich nur ein einziger Hinweis auf Athen, nämlich in 1. Thessalonicher 3,1, wo Paulus von seiner zweiten Missionsreise berich-tet.

Was können wir heute aus dieser Geschichte lernen? Einige Denkanstöße:

  • Paulus' Geist wurde „in ihm erregt", als er sah, wie sehr die Athener dem Götzendienst verfallen waren. Wie reagieren wir darauf, daß unsere Mitmenschen ohne Gott dahinleben oder falschen Göttern dienen?
  • Paulus war sich nicht zu schade, das Evangelium auf dem Marktplatz zu verkündigen und so mit der ganzen Vielfalt der dort anzutreffenden religiösen, philosophischen und politischen Meinungen in Konkurrenz zu treten. Scheuen wir bei der Wahl unserer Evangelisationsmethoden die Nähe andersartiger Weltanschauungen?
  • „Epikuräer" und „Stoiker" gibt es noch heute: Für die einen ist ungetrübter Lebensgenuß oberstes Prinzip, andere versuchen durch Pflichterfüllung und gute Taten ihrem Leben einen Sinn zu geben, jedoch ohne Gott.
  • Die Athener hörten der Botschaft des Evangelium zunächst mit Neugierde zu. Damit können wir heute nicht mehr rechnen, denn für die Menschen unserer Zeit ist die Botschaft von Jesus Christus nichts Neues mehr, sondern sie wird im Gegenteil oft als altmodisch und antiquiert empfunden. Gerade deshalb erfordert wirkungsvolle Evangelisation heutzutage mehr Überlegung als im ersten Jahrhundert.
  • Paulus kam seinen Zuhörern entge-gen. Er schleuderte ihnen nicht einfach die Wahrheit ins Gesicht, sondern knüpfte an das bei ihnen Vorhandene und ihre Vorstellungen an, ohne dabei den Boden des Evangeliums zu verlassen (seine Worte lehnten sich zwar an die griechische Denkweise an, hätten jedoch - in etwas anderer Formulierung - auch aus dem Alten Testament abgeleitet werden kön-nen). Sein Grundsatz war, „allen alles" zu werden, um dadurch „so viele wie möglich" zu gewinnen (1. Kor 9, 19.22). Dieses Prinzip ist auch für die Evangelisa-tion in unserer Zeit von größter Bedeutung; um es in die Tat umsetzen zu können, müssen wir freilich mit der Denkweise unserer Mitmenschen einigermaßen vertraut sein.
  • Trotz seines grundsätzlichen Eingehens auf die Voraussetzungen des Publikums schreckte Paulus im entscheidenden Moment nicht davor zurück, auch unbequeme und anstößige Dinge zu sagen. Was die Wahrheit betraf, ging er keine Kompromisse ein; der Kern des Evangeliums - die Sündhaftigkeit des Menschen und die Notwendigkeit der Buße - durfte nicht verschwiegen werden und darf es auch heute nicht.
  • Die Art und Weise, wie die Zuhörer auf Paulus' Predigt reagierten, ist auch für unsere Zeit noch typisch: Die einen spotteten, die anderen schoben die Entscheidung auf. Gerade gebildete und intelligente Menschen - und solche hatte Paulus hier vor sich - sind oft am wenigsten für das Evangelium zugänglich (vgl. 1. Kor 1,18-30).
  • Mindestens einer von ihnen glaubte trotzdem: Dionysius, ein Mitglied des Areopags. Sein Name bedeutet „dem Dionysos (dem Gott des Weines und der Fruchtbarkeit) gehörig". Zuvor hatte er wahrscheinlich seinem Namenspatron und anderen Götzen gedient, jetzt sagte er sich vom Götzendienst los und bekannte sich öffentlich zu Jesus Christus, obwohl dies in einer Stadt wie Athen zweifellos Nachteile für ihn mit sich bringen konnte. Vom Mut dieses Mannes können auch wir noch lernen.