Rechtfertigung oder Vergebung
Im Heft 6/98 wurde der Begriff „Rechtfertigung" kurz erklärt - ich verstehe ihn auch so und bin sehr froh darüber! Ich möchte nun fragen, wie die Geschichte in Matthäus 18 in bezug auf die vollständige „Auflösung der Schuld" zu erklären ist, wo der König das Darlehen erläßt (Vers 27) und später doch wieder hervorholt.
G. Müller, Bergneustadt
Lieber Bruder Gotthelf,
vielen Dank für die Zuschrift - gern möchte ich auf Ihre Frage eingehen, die Sie an den Artikel „Rechtfertigung" angeschlossen haben ... In dem angeführten Gleichnis des Herrn (Mt 18,23ff.) geht es nicht um Rechtfertigung vor Gott oder auch vor einem weltlichen Gericht, sondern um die Seite der Vergebung. Rechtfertigung und Vergebung sind nun zwar zwei Seiten, die sich in dem Fall unserer Schuld vor Gott ergänzen, aber sie sollten doch unterschieden werden: Das erste ist, daß wir (durch den Glauben und auf der Grundlage des Opfers des Herrn) Gerechtigkeit erlangen, das zweite ist, daß wir (auf dieselbe Weise) unsere Schuld, die Sünden, „verlieren", sie sind „erlassen" (= verge-ben) (s. a. Mt 18,27.32). Sie meinen dies wohl mit „vollständiger Auflösung der Schuld'" Das Gleichnis verdeutlicht nun die Belehrung des Herrn besonders über den „Geist des Vergebens", den Er hat und den Er bei seinen Jüngern, die im Reich der Himmel sind, sehen möchte (siehe den Zusammenhang mit der Frage des Petrus, Vers 21 bis 35; auch Mt 6,14). Der besagte Knecht, dem der König in seiner Souveränität das Darlehen erläßt, geht hinaus und hat nichts, aber auch gar nichts verstanden von der Größse der Schuld und des Schuldenerlasses, auch nichts von der Güte und Gnade des Schuldherrn. Er ist somit das Bild eines „Namenschristen", der sich mit religiösen Formen begnügt, ohne das Herz Gottes, seine Gnade in der Vergebung und den hohen Preis zu kennen, den Gott bezahlt hat; und der daher auch selbst nichts von Vergeben kennt. [Abgesehen davon fordert das Gleichnis natürlich auch uns zu einem Geist des Vergebens auf, da uns so viel vergeben worden ist.]
In seinem Reich - und darum geht es hier - handelt Gott in seiner Regierung entsprechend der Weise, wie wir unsere Brüder behandelt haben, so daß alles Tun und Lassen seine Folgen haben wird (s. Vers 35). „Irrt euch nicht, Gott läßt sich nicht spotten! Denn was irgend ein Mensch sät, das wird er auch ernten" (Gal 6,7).
Zuletzt: In prophetischer Sicht ist dieser Knecht auch ein Bild des ungläubigen und widerspenstigen Israel, das seinen Messias verworfen und gekreuzigt hat. Gott erließ ihm auf Grund der Bitte des Herrn: „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun!" sozusagen die Schuld, d. h. Er brachte nicht sofortiges Gericht über sie. Da sie aber als Volk unbußfertig blieben und die im Evangelium angebotene Gnade nicht annahmen, sondern sogar die Nationen (im Bild des Schuldners der 100 Denare) hindern wollten, Vergebung zu erlangen, werden sie ihr Gericht empfangen (siehe besonders 1. Thes 2,15.16).
In der Hoffnung, die Frage in etwa beantwortet zu haben, verbleibe ich mit herzlichen, brüderlichen Grüßen
Ihr Rainer Brockhaus
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