Zum Nachdenken

Die andere Hand

Ich weiß nicht mehr, wie es dazu kam, dass sich unsere Runde Glaubensfragen zuwandte. Vielleicht hatte irgendein zufällig hingeworfenes Wort die Veranlassung dazu gegeben. Jedenfalls unterhielt man sich mit einem Mal über die Frage, was man heute noch glauben dürfe und was nicht, welche der alten christlichen Anschauungen von dem modernen Menschen über Bord geworfen werden müßten und was allenfalls noch mit unserer heutigen Welter-kenntnis in Übereinstimmung zu bringen sei.

Der Arzt, ein rüstiger Fünfziger, war der radikalste von allen. „Der ganze Wunder-glaube, wie er von den Christen gefordert wird, kann ja einfach nicht mehr bestehen vor den Resultaten der modernen Wissen-schaft", behauptete er.

Man stimmte ihm allgemein zu, nur ein schmächtiger junger Mann, den ich noch nicht näher kennengelernt hatte und der sich bisher bescheiden zurückhielt, sagte:

„Wissen Sie, was das Verwunderlichste am Wunder ist?" Alle sahen ihn erwartungsvoll an. „Daß es im Grunde gar nicht wunderbar ist", erklärte der junge Mann. Einige lächelten. Sie vermuteten wohl, daß sich hinter seinen Worten ein Scherz verbarg.

"Ein Wunder geschieht ja nicht", fuhr der junge Mann unbekümmert fort, „im Widerspruch zu den Naturgesetzen, sondern in Ubereinstimmung mit uns noch unbekannten Gesetzmäßigkeiten der Welt."

"Erlauben Sie mal", entgegnete der Arzt, "da mutet uns zum Beispiel die Bibel zu, zu glauben, daß ...

„Ich weiß schon",  unterbrach der junge Mann, „die Ereignisse der Bibel, die man als Wunder bezeichnet, erscheinen Ihnen nur als solche, weil Sie selbst niemals ein Wunder erlebt haben."

„Da haben Sie recht. Ich bin ein Realist. Ich muß gesehen haben, was ich glauben soll, und lasse mich grundsätzlich nicht verblüf-fen. Was ich bisher beobachtet habe, ging alles stets ganz natürlich zu."

Ein feines Lächeln glitt über das Gesicht des jungen Mannes. Er fragte: „Darf ich Ihnen mal eben aus dem Stegreif ein Wunder vorführen, damit Sie sehen, worauf es bei der Beurteilung ankommt?"

Ohne eine Antwort abzuwarten, nahm er ein kleines Lineal vom Tisch, faßte es mit zwei Fingerspitzen und hielt es mit gestreck-tem Arm den Anwesenden entgegen ... „Ach so - mir ist alles klar -, ein Taschen-spielertrick" ,meldete sich einer aus der Run-de.

„Nein, das ist es nicht! Was ich vorführe, ist wirklich ganz ernsthaft gemeint. Was wird geschehen, wenn ich meine Fingerspitzen öffne? Natürlich, werden Sie sagen, fällt das Lineal zu Boden und bleibt auf dem Teppich liegen. Infolge der Anziehungskraft der Erde muß das so geschehen, das ist ganz selbstverständlich. Wenn aber das Lineal, nachdem ich es losgelassen habe, zur Decke steigen würde oder in der Luft stehenbliebe, was dann?" Das wäre allerdings ein Wunder", bestätigte der Arzt. „Aber so was können Sie uns hier doch nicht vormachen wol-len. Oder wollen Sie uns verkohlen?"

Natürlich nicht. Sie werden es sofort se-hen." Der junge Mann öffnete die Hand, das Lineal fiel, aber gleichzeitig streckte er die linke Hand aus und fing es wieder auf.

„Sehen Sie", sagte er ganz ruhig, „jetzt habe ich Ihnen ein ganz echtes Wunder vorge-führt. Entgegen Ihrer an sich durchaus berechtigten Erwartung ist das Lineal nicht zu Boden gefallen, sondern in der Luft stehengeblieben.

Der Arzt wurde - wohl vor Zorn - krebsrot im Gesicht. „Das ist doch die Höhe!" , platzte er los. „Ihre andere Hand hat das Lineal doch einfach aufgefangen! Wenn es frei in der Luft stehengeblieben wäre, dann ..."

„Herr Doktor", entgegnete der junge Mann, „ich bin Ihnen dankbar, daß Sie eben den Ausdruck, 'die andere Hand' geprägt ha-ben. Gewiß hat die andere Hand, die unerwartet in Aktion trat, etwas voll-bracht, was unserem Verstand vorher als unmöglich erscheinen mußte.

Bei meinem Experiment sahen Sie freilich nun alle die andere Hand', und nur dadurch unterscheidet sich mein 'Wunder' von einem der vielen biblischen Wunder. Bei diesen sah kein Mensch die andere Hand, aber sie war dennoch da! Durch meine andere Hand habe ich nicht das Gesetz der Schwere, das einen fallenden Körper in die Tiefe zieht, aufge-hoben, sondern nur für diesen einen Fall unwirksam werden lassen. Die Schwerkraft wurde überwunden, durch eine andere, stärkere Kraft!"

„Die andere Hand!" fügte er nachdenklich hinzu, als spräche er mit sich selbst.

„Sehr gut gesagt: Die andere Hand! Wenn wir sie doch immer sehen könnten, dann wären Meinungsverschiedenheiten über das Wunder tatsächlich nicht mehr möglich." Wie aus einem Traum erwachend, blickte der junge Mann in die Runde und sagte: ,Ich gehöre zu den Menschen, die in ihrem Leben schon vielfach die andere Hand gespürt haben, weil sie täglich unzählige Wunder vollbringt."