Wenn Gläubige sündigen

Auf die Antwort zu dem Leserbrief zum Thema „Heilsgewißheit" in FOLGE MIR NACH Heft 3/94 haben wir zwei Zuschriften erhalten, deren Schreiber mit dem Antwortbrief nicht einverstanden waren. Dabei ist uns deutlich geworden, daß der Eindruck entstehen konnte, als würden wir einer Einstellung Vorschub leisten, die leichtfertig darüber weggeht, wenn Gläubige sündigen.

Darum wollen wir uns heute noch einmal diesem ernsten Thema zuwenden.

Was ist eigentlich Sünde?

Sünde - auch wenn sie uns noch so unbedeutend erscheinen mag - ist eine überaus ernste Sache. Sie richtet sich in jedem Fall gegen Gott. Eine der deutlichsten Bibelstellen in diesem Zusammenhang ist diese: „Jeder, der die Sünde tut, tut auch die Gesetzlosigkeit, und die Sünde ist die Gesetzlosigkeit" (1. Joh 3,4). Mit dieser Schriftstelle stoßen wir in das Zentrum unserer Frage. Sünde ist ihrem eigentlichen Wesen nach Gesetzlosigkeit- nicht zu verwechseln mit einer Gesetzesübertretung.

Wer ein Gesetz übertritt, lehnt es damit noch nicht zwangsläufig ab. Ein Beispiel dazu: Wer in einer geschlossenen Ortschaft die Höchstgeschwindigkeit von 50 km/Stunde überschreitet und mit 90 km daherbraust, übertrittein Verbot der Straßenverkehrsordnung. So war es auch im Alten Testament: Gott hatte viele Gebote und Verbote erlassen, und jede Zuwiderhandlung war eine Übertretung Seiner Gesetze.

Gesetzlosigkeit hingegen geht viel weiter. Sie wäre - um bei dem Beispiel zu bleiben - gegeben, wenn jemand sich ein Auto kaufen und dann sagen würde: „Die Straßenverkehrsordnung interessiert mich überhaupt nicht. Ich fahre, wie ich will." Für so jemand gibt es keine roten Ampeln, kein Parkverbot, keine Einbahnstraßen usw. Abgesehen davon, was dann passiert, übertritt er damit nicht nur einzelne Gebote oder Verbote, sondern lehnt die bestehende Ordnung für sich ab. Er handelt gesetzlos.

In der Bibel ist Gesetzlosigkeit nicht nur das Handeln gegen einzelne Gebote oder Verbote Gottes, sondern die bewußte Ablehnung der Autorität, die dahintersteht. Er verwirft nicht nur das Gesetz, sondern auch den, der es gegeben hat, also GOTT selbst. In der Bibel ist diese Haltung „Abfall" (oder Frevel" im Alten Testament).

Sünde ist also ihrem tiefsten Wesen nach die Ablehnung der Autorität Gottes. Ist das nicht sehr ernst? Ist es möglich, daß Gläubige willentlich sündigen? Doch zuvor noch etwas über die Bedeutung des Begriffes „Sünde".

Das allgemeine Wort für Sünde

Im Neuen Testament ist das ursprüngliche Wort für Sünde hamartia. Wörtlich übersetzt heißt es „das Ziel verfehlen, vom rechten Weg abweichen". Sünde bezeichnet ganz allgemein die schiefe Richtung des Menschen im moralischen Sinn. Darüber hinaus bezeichnet dieser Begriff den herrschenden Grundsatz oder die Macht der Sünde (Röm 6,6), oft konkrete Handlungen der Gesetzlosigkeit (1. Joh 3,4) und dann einzelne sündige Handlungen.

Über den Zweck der Erschaffung des Menschen lesen wir in Kolosser 1,16: „Denn durch ihn sind alle Dinge geschaffen worden, die in den Himmeln und die auf der Erde, die sichtbaren und die unsichtbaren, es seien Throne oder Herrschaften oder Fürstentümer oder Gewalten: alle Dinge sind durch ihn und für ihn geschaffen". Hier ist von dem Herrn Jesus als dem Schöpfer aller Dinge die Rede. Er hat alles für sich selbst geschaffen, nämlich daß Ihm alles zur Verfügung stehe und Ihm diene. Die Bestimmung eines jeden Menschen ist es, Gott zu dienen. Mit jeder Sünde weicht ein Mensch von diesem Ziel ab. Das gilt auch für Gläubige.

Mit Willen sündigen?

Diesem Ausdruck begegnen wir in Hebräer 10: „Denn wenn wir mit Willen sündigen, nachdem wir die Erkenntnis der Wahrheit empfangen haben, so bleibt kein Schlachtopfer für Sünden mehr übrig, sondern ein gewisses furchtvolles Erwarten des Gerichts und der Eifer eines Feuers, das die Widersacher verschlingen wird" (V. 26.27).

Diese Stelle hat vielen Kindern Gottes schon Not bereitet. Sie waren sich bewußt, daß sie nach ihrer Bekehrung häufig gesündigt hatten, und sie meinten auch, „mit Willen" gesündigt zu haben. Gab es für sie nun nur noch das furchtvolle Erwarten des Gerichts?

Doch was ist der Zusammenhang dieser Bibelstelle? Der Schreiber dieses Briefes spricht zuerst einmal davon, daß es damals „Christen" gab, die das Zusammenkommen versäumten; sie zogen sich damit allmählich aus der Gemeinschaft der Gläubigen zurück (Kap. 10,25). In den Versen 27 und 28 dieses Kapitels zieht der Apostel eine Parallele zu Menschen im Alten Testament, die das Gesetz Moses verworfen hatten (also gesetzlos waren - siehe oben). Darauf stand im Gesetz die Todesstrafe. In Vers 29 kommt er zurück auf die Personengruppe, von der er bereits in den Versen 25-27 gesprochen hatte, und sagt von ihnen, daß sie „den Sohn Gottes mit Füßen" getreten haben.

Es geht also hier um Menschen, die dem Christentum den Rücken zugekehrt hatten, ja, die von Gott abgefallen waren. Was anderes haben sie zu erwarten als das Gericht? Straft das Verhalten dieser Menschen ihr Bekenntnis als Christen nicht Lügen? Sie hatten dieses Bekenntnis aufgegeben.

Aus Versehen sündigen

Die biblische Gegenüberstellung zu „mit Willen sündigen" ist „aus Versehen sündigen". Diesen Ausdruck finden wir verschiedene Male im Alten Testament (3. Mo 4,2.13.22.27; 5,15; 4. Mo 15,22.24.25.27.28; Hes 45,20). Wenn wir alle diese Stellen in ihrem Zusammenhang untersuchen, finden wir, daß es im Alten Testament nur für Sünden aus Versehen Vergebung gab. Im Neuen Testament gibt es während der Gnadenzeit für jede Sünde Vergebung: „Wenn wir unsere Sünden bekennen, so ist er treu und gerecht, daß er uns die Sünden vergibt und uns reinigt von aller Ungerechtigkeit" (1. Joh 1,9).

Nochmals: Können Gläubige willentlich sündigen?

Nun fragen sicher manche: „Ich habe aber schon oft wissentlich gesündigt, gibt es für diese Sünde denn keine Vergebung?" Andere sagen vielleicht: „Ich habe schon oft wissentlich gesündigt, doch die Gnade der Vergebung ist für alle meine Verfehlungen ausreichend!" Wer wider besseres Wissen sündigt, begibt sich in einen äußerst gefährlichen Bereich.

Würde beispielsweise ein Gläubiger einen Ungläubigen heiraten, was eindeutig gegen Gottes Wort ist (2. Kor 6,14.15), und würde er das trotz der Warnungen anderer tun - was soll man dann von solch einer Person halten?

Die entscheidende Frage dabei ist, ob diese Person im vollen Bewußtsein dessen handelt, was sie tut - denn sie weist Gottes Wort für sich in dieser Sache ab -, und auch, ob sie bewußt die Autorität des Herrn Jesus über sich ablehnt. Wenn das der Fall ist, fragen wir uns, ob ihr Bekenntnis, daß Jesus Christus ihr persönlicher Herr ist, wirklich echt ist. Andererseits kann eine Person so von ihren Gefühlen beherrscht werden, daß sie blind ist für Gottes Weisung. Möglicherweise betritt sie einen Weg, der äußerst schmerzlich für sie ist. Eins ist klar: Wenn jemand mit Willen sündigt, lehnt er ja nicht nur die Autorität Gottes und damit Gott selbst ab, sondern auch Seine Gnade und Vergebung. Für Menschen, die in diesem Sinn von Gott abfallen, gibt es keine Möglichkeit der Umkehr, sie können nicht mehr "zur Buße erneuert" werden (Heb 6,6).

Wir alle straucheln oft

Auch diesen Ausdruck finden wir in Gottes Wort, und zwar in Jakobus 3,1: „Seid nicht viele Lehrer, meine Brüder, da ihr wisset, daß wir ein schwereres Urteil empfangen werden; denn wir alle straucheln oft." Wenn sich Jakobus damit auch in erster Linie an Lehrer wendet und sich auf Sünden des Mundes, auf übles Reden, bezieht, so ist darin doch ein allgemeiner Grundsatz enthalten. Das griechische Wort (ptaio), das hier mit „straucheln" übersetzt ist, kommt fünfmal im Neuen Testament vor (Röm 11,11; Jak 2,10; zweimal hier und in 2. Pet 1,10). Ein Wörterbuch gibt seine Bedeutung wieder mit 1. anstoßen, anprallen - 2. straucheln: a) fehlen, sündigen. b) Unglück haben, einen Unfall erleiden, unterliegen (Langenscheidts Taschenwörterbuch, Hermann Menge).

Und straucheln wir nicht täglich in Worten, Gedanken und Taten? Das ist für jeden Christen eine demütigende Tatsache. Und wir straucheln um so mehr, wie wir nicht unserem Herrn nahe sind und das Gebet und das Lesen der Bibel vernachlässigen. Glücklich das Kind Gottes, das täglich alle Verfehlungen, alles Straucheln im Selbstgericht vor Gott verurteilt. Denn nur durch das Bekennen der Sünden kann die verlorengegangene Gemeinschaft mit dem Vater und Seinem Sohn Jesus Christus wiedergewonnen werden (1. Joh 1,3.9). Wir leben aus der Gnade und aus der Vergebung.

Zur Sünde gemacht

Auf dem Kreuz von Golgatha ist in den drei Stunden der Finsternis etwas Furchtbares geschehen: „Den, der Sünde nicht kannte [unseren Herrn Jesus Christus], hat er [d.i. Gott] für uns zur Sünde gemacht, auf daß wir Gottes Gerechtigkeit würden in ihm" (2. Kor 5,21). Bei dieser Tatsache sollten wir noch einmal stillestehen. Der Sohn Gottes hat dort für unser sündiges Wesen, ja, für all die vielen Sünden, die wir getan haben - und wie viele mögen es gewesen sein? -, das Gericht Gottes getragen. Es war für Ihn so entsetzlich, daß Er kurz vor Seinem Tode zu Gott geschrien hat: „Eli, eli, lama sabachthani? das ist: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?" (Mt 27,46; Mk 15,34; vgl. Ps 22,1). Gott konnte 12 in diesen Augenblicken keine Gemeinschaft mit Ihm haben.

Der Herr Jesus hat da „selbst unsere Sünden an seinem Leibe auf dem Holze getragen" (1. Pet 2,24). Und neben diesen entsetzlichen Qualen Seiner Seele ertrug Er die körperlichen Schmerzen der Kreuzesmarter. Daß Menschen Ihn dann noch in diesen Stunden verhöhnten, zeigt uns die Empfindungslosigkeit und Gefühlskälte, zu der Menschen fähig sind. Und schließlich starb der Sohn Gottes, weil der Lohn der Sünde der Tod ist (Röm 6,23). Nirgendwo lernen wir so die Furchtbarkeit der Sünde verstehen, als wenn wir den Sohn Gottes betrachten, der dafür leiden und sterben mußte.

Saat und Ernte

Können wir angesichts dieses Gerichts über die Sünde, das unseren Herrn und Heiland am Kreuz traf, der Sünde gegenüber gleichgültig sein oder oberflächlich darüber weggehen? Die Gnade ist zwar sehr groß, aber das Gericht über die Sünde ist unsagbar schrecklich.

Und wenn Du Dich von Herzen ein Kind Gottes nennst und weißt, daß Gott Deine Sünden vergeben hat, dann bedenke, daß Gott jede Sünde in Deinem Leben, die Du nicht bekennst, einmal ans Licht bringen wird. Sünde in Deinem Leben hat zwar keinen Einfluß auf Deine für ewig geordnete Beziehung zu Gott, wohl aber auf Deine Beziehung als Kind Gottes zu Deinem Vater. Ungerichtete Sünde unterbricht die Gemeinschaft mit Ihm. Ist uns der Verlust dieser Gemeinschaft unbedeutend?

Wenn ungerichtete Sünde bei uns vorhanden ist, wird der Vater sich in Seinen Regierungswegen mit uns als Seinen Kindern beschäftigen (siehe 1. Pet 1,17). Und obwohl diese Erziehung zu unserem Guten dient, so kann sie doch sehr schmerzhaft sein. Wie viele Gläubige leiden unter den Folgen ihrer Sünden - manchmal ein Leben lang. Der Grundsatz der Regierung Gottes ändert sich nicht: „Denn was irgend ein Mensch sät, das wird er auch ernten" (Gal 6,7). Gott möchte Seinen Kindern gerne das Leid eigener Wege ersparen und sie glücklich sehen.

 

Eine Bitte um Bewahrung

Der 19. Psalm, der die beiden Zeugnisse Gottes in der Schöpfung und in Seinem Wort beschreibt, endet mit einem Gebet bezüglich der Sünden. Zuerst stellt David die Frage: „Verirrungen, wer sieht sie ein?" Wie wenig kennen wir uns selbst. „Arglistig ist das Herz, mehr als alles, und verderbt ist es; wer mag es kennen?" (Jer 17,9). Wer ist es, der Verirrungen einsieht? Ist es nicht manchmal auch für uns ein langer Weg, bis wir dahin kommen? Laßt uns dabei nicht so schnell an andere denken, sondern uns selbst in das Licht Gottes stellen.

Doch dann betet der Psalmist: „Von verborgenen Sünden reinige mich." Viele Sünden sind verborgen, ja, auch für uns selbst verborgen. Wir könnten sie wissen, wenn wir geistlich gereifter wären. Manchmal verurteilen wir Sünden bei anderen scharf und entschuldigen sie bei uns selbst. Der Herr Jesus hat der Frau am Jakobsbrunnen alles gesagt, was sie getan hatte (Joh 4). Ihre verborgenen Sünden waren offenbar geworden. Sind wir dankbar, wenn uns jemand auf Sünden aufmerksam macht?

Weiter heißt es: „Auch von übermütigen [Sünden] halte deinen Knecht zurück." Das sind vorsätzliche Sünden. Zwischen verborgenen und übermütigen Sünden ist ein gewaltiger Unterschied. Wir wollen nicht übersehen, daß David die Heilsgewißheit, wie wir sie heute - nach dem Werk von Golgatha - kennen dürfen, nicht bekannt war.

Doch diese Haltung gegenüber der Sünde sollte auch uns nicht unbekannt sein. Bewegen sich manche bekennenden Christen nicht manchmal im Grenzbereich? Wenn Gott offenbar machen würde, was da oft so alles in unseren Herzen ist, wehe uns!

Dieser Psalm endet mit dem schönen Gebet: „Laß die Reden meines Mundes und das Sinnen meines Herzens wohlgefällig vor dir sein, HERR, mein Fels und mein Erlöser." Ja, wenn unser Reden und Sinnen vor Gott wohlgefällig ist, so ist das die beste Voraussetzung dafür, daß wir vor sündigen Handlungen und Wegen bewahrt werden.

 

ABER DU HAST MIR ZU SCHAFFEN GEMAGHT MIT DEINEN SÜNDEN, DU HAST MICH ERMÜDET MIT DEINEN MISSETATEN. (JESAJA 43,24)