Loslassen und Warten

1. Warten ist „out"

Ist Warten nicht das Langweiligste von der Welt, höchstens etwas für Omas - absolut mega-out? Keine Generation wurde so geprägt vom Bewußtsein des Keine-Zeit-Habens wie unsere. Zeit ist Geld, besser sofort den Sperling in der Hand als die Taube auf dem Dach. Auch das Anschwellen der Konsumentenkredite und Ratenkäufe dokumentiert, daß kein Mensch mehr auf etwas, was er haben möchte, warten will. Nichts anderes signalisieren die bereits üblich gewordenen intimen Partnerschaften junger Teenager. „Intensiv leben" heißt das Credo vor allem der jüngeren Generation.

Mit sicherem Gespür für den Geist unserer Zeit haben es zunächst moderne Autoren formuliert. Ernest Hemingway läist seinen Helden Robert Jordan (in Wem die Stunde schlägt) zu der Uberzeugung kommen: „Es müßte doch möglich sein, in siebzig Stunden sein Leben ebenso auszuschöpfen wie in siebzig Jahren, vorausgesetzt, daß man bis dahin aus dem Vollen gelebt ... hat." Noch radikaler formuliert - und ausgelebt - wurde diese Einstellung dann von den geistigen Vätern und Interpreten der Rock- Pop-Szene. Deren „Glaubensbekenntnis", das sich unzählige junge Leute zu eigen gemacht haben, lautete: „Live fast, love hard, die young." („Lebe schnell, liebe intensiv, stirb jung.") Diese Lebenseinstellung, die sich auch heute in Forderungen wie „Ich will alles und ich will es sofort" manifestiert, prägt letztlich die Denkweise und Lebensstimmung unserer Generation, besonders der jungen Leute, und sie tut dies oft schon unbewußt. Niemand kann sich dem Einfluß dieses Zeitgeistes völlig entziehen.

Es ist offensichtlich, daß Warten in diesem Lebenskonzept keinen Platz mehr hat. Wozu sollte es gut sein? Es führt doch nur dazu, daß man das Beste verpaßt. Moderne Schriftsteller wie Samuel Becket haben es längst erkannt und uns nachdrücklich vor Augen geführt: Warten ist sinnlos, ja es ist geradezu absurd. Das gilt ganz besonders dann, wenn man (wie in Beckets Warten auf Godot) auf Gott wartet.

Sind wir als Christen wirklich frei von diesem Geist unserer Zeit? Können wir noch auf Gottes Zeit warten? Haben wir nicht auch den unbändigen Drang, unsere Vorstellungen sofort umzusetzen? Wir leben „in der Welt", und es ist nicht einfach, uns von dieser Lebensstimmung, die uns in Schule und Beruf täglich umgibt, zu distanzieren. Die Gefahr ist groß, daß wir - vielleicht unbewußt - die Maßstäbe unserer Zeit übernehmen. Nach welchen Prinzipien tätigen wir einen Hauskauf oder sonstige Anschaf-fungen, wie verhalten wir uns bei Berufswahl und Wechsel des Arbeitsplatzes? Wird nicht manche Wahl des Ehepartners durch die Vorstellung herbeigeführt, einfach nicht mehr länger warten zu können?

Und wie werden die jüngeren Geschwister von den älteren beraten? Bekommen sie wirklich geistliche Wegweisung? Unterstützen nicht auch die älteren oft eher die Meinung, daß es an der Zeit sei, die Dinge in die (eigene) Hand zu nehmen? Wer gibt den jungen Brüdern und Schwestern wirklich biblischen Rat und macht ihnen Mut zum Warten auf Gott?

2. Ohne Warten geht es nicht!

Mancher wird jetzt vielleicht fragen: Ist das denn wirklich so schlimm? Unsere schnellebige Zeit duldet eben keine langen Wartezeiten mehr. Es ist doch nur natürlich, daß sich die Christen hier auch ihrer Zeit anpassen müssen. Wir können doch nicht völlig weltfremd leben.

Täuschen wir uns nicht. Es geht hier nicht um ein Randproblem, um eine Fußnote unseres Lebens als Christen. Es betrifft vielmehr den Kern unseres Christseins. Hier entscheidet sich, ob es mehr ist als ein Lippenbekenntnis. Wirkliche Nachfolge ist ohne dieses Warten-auf-Gott gar nicht möglich. Ohne die Bereitschaft, auf Gottes Zeit zu warten, können wir auch nicht Gottes Weg gehen. Beides gehört untrennbar zusammen.

Hier zeigt sich, ob es uns ernst ist und wir uns wirklich von Gott führen lassen wollen. Es ist das entscheidende Kennzeichen, daß wir das Steuer unseres Lebens wirklich dem Herrn übergeben haben. Und nur so erleben wir, daß es Gottes Freude ist, seinen Kindern das Beste zu geben. Andererseits hört in dem Augenblick, wo wir die Dinge ungeduldig selbst in die Hand nehmen, unerbittlich Sein verborgener Beistand und Segen auf. Wir verpassen gerade dann etwas, wenn wir nicht warten wollen - nämlich das Gute, das Gott uns so gern schenken möchte. Die Bibel zeigt uns dies an vielen Beispielen, von denen hier nur einige erwähnt werden können.

Abraham mußte fünfundzwanzig Jahre auf den Sohn warten, in dem gewissermaßen alle Verheißungen und aller Segen Gottes für ihn zusammengefaßt waren. War diese lange Wartezeit nicht nach menschlichem Ermessen unsinnig? Wäre es nicht aus vielen einleuchtenden Gründen sinnvoller gewesen, wenn er den Sohn in jüngeren Jahren bekommen hätte? Aber nur so zeigte sich, daß ihm Gottes Verheißungen und Sein Segen wichtiger waren als alle eigenen Zweifel und der Spott der Leute. Nur so ist er zum Glaubensmann gereift. In Römer 4,16-25 wird dieses Wachstum des Glaubens eindrucksvoll beschrieben.

Aber auch dieser Glaubensmann hatte eine schwache Stunde. Nachdem seine Frau ihm entsprechend zugeredet hatte, glaubte er, nun nicht mehr länger warten zu können, und nahm die Sache selbst in die Hand. Ismael wurde geboren und hat ihm und seinen Nachkommen nur Kummer und Probleme gebracht - bis auf den heutigen Tag. Im Grunde sind in dieser Abrahams-Geschichte bereits die entscheidenden Fragen unseres Lebens angesprochen: Wollen wir uns entschließen, auf den „Isaak" zu warten - den nur Gott geben kann -, oder entscheiden wir uns für unseren „Ismael", der uns keine Wartezeit kostet?

Ein weiteres Beispiel ist Joseph. Gottes Plan hatte für ihn die Position des zweiten Herrschers in Ägypten vorgesehen - eines der mächtigsten Männer der damaligen Welt. Aber zunächst muß er eine unverständlich erscheinende Wartezeit als Sklave im Gefängnis verbringen. Dennoch war gerade diese Zeit für ihn eine entscheidende Vorbereitungs- und Segenszeit, in der Gott in besonderer Weise mit ihm reden konnte. In Psalm 105,19 heißt es von diesem Lebensabschnitt in der engen Gemeinschaft mit Gott: „Das Wort des HERRN läuterte ihn."

Mose hatte als junger Mann den Plan, das unterdrückte Volk Israel zu retten. Er brachte eigentlich die besten Voraussetzungen mit für einen Erfolg: eine hervorragende Ausbildung, eine angesehene und einflußreiche Position als Mitglied der ägyptischen Königsfamilie, ein Herz für sein Volk. Doch als er die Sache in die Hand nimmt, erlebt er einen völligen Mißerfolg und muß in die Wüste fliehen. Erst nach einer vierzig Jahre dauernden Wartezeit „hinter der Wüste", wo Gott ihm begegnet und ihn völlig verändert (vgl. Apg 7,22 mit 2. Mo 4,10!), kann Gott ihn für die große Aufgabe gebrauchen. Erst dann ist Gottes Zeit da, und Mose erlebt, wie der HERR durch ein Wunder nach dem anderen den Erfolg selbst herbeiführt.

Völlig unverständlich war auch die Wartezeit für David. Nachdem er längst zum König gesalbt war und bereits große Erfolge erzielt hat, führt sein Weg zunächst in die Verachtung und Verfolgung. Er wird jahrelang gejagt „wie man einem Rebhuhn nachjagt auf den Bergen" (1. Sam 26,20). Dennoch haben diese Jahre wie wohl keine anderen in seinem Leben zu geistlichem Wachstum geführt. Die Psalmen, die er in dieser Zeit dichtete, zeugen davon, wie er gerade da den HERRN kennengelernt hat und von Ihm geformt wurde. Es war die entscheidende Vorbereitungsperiode für sein Königtum. Es war auch die Zeit, in der er am meisten das Leben des Herrn Jesus vorschatten durfte.

Ein vollkommenes Beispiel des Wartenkönnens gibt unser HERR selbst. Er konnte in enger Gemeinschaft mit Seinem Vater stets warten, bis „seine Stunde gekommen war" Wir sehen dies sowohl in Seinem Warten bis zum ersten öffentlichen Auftreten mit etwa dreißig Jahren als auch in allen Einzelheiten Seines Weges. Auch gerade dann, wenn ER von anderen - mit menschlich guten Gründen - gedrängt wurde, aktiv zu werden, wartete ER auf des Vaters Zeit (vgl. z.B. Joh 2,4; 7,3-10).

Die Bibel läßt keinen Zweifel daran, daß Warten ein entscheidendes Merkmal all derer gewesen ist, die Gottes Weg gehen wollten. Daß es auch für uns Christen ohne Warten nicht geht, macht Hebräer 10,36 deutlich, wo es heißt: „Ihr bedürfet des Ausharrens ...

Es mag sein, daß uns dies theoretisch völlig klar ist. Wie aber bekommt man die Kraft, um wirklich warten zu können? Warten kann manchmal so unendlich schwer sein! Besonders dann, wenn eigene Wünsche, gutgemeinte Ratschläge von Freunden oder der „gesunde Menschenverstand" zum Handeln drängen.

3. Das Geheimnis des Wartenkönnens: Loslassen

„Lasset ab und erkennet, daß ich Gott bin" (Ps 46,10). Gott macht uns ein großartiges Angebot zur Entspannung und Gelassenheit: Wir dürfen unsere Probleme Ihm überlassen. „Indem ihr alle eure Sorgen auf ihn werfet, denn er ist besorgt für euch" (1. Pet 5,7). Und was wäre entspannender, als unsere Angelegenheiten in die Hände eines Anwalts zu legen, der über eine allmächtige Kraft verfügt, vollkommene Weisheit besitzt und der uns unendlich liebhat? Wir dürfen aufhören, selbst zu arrangieren, und statt dessen „staunend zusehen" (vgl 1. Mo 24,21), was Gott für uns tut. Wir dürfen loslassen.

Gott hat bei Seinem Wirken unsere Hilfe absolut nicht nötig. Er will allein der Wirkende sein, damit am Ende völlig klar ist, daß ER es getan hat. („Meine Ehre gebe ich keinem anderen"; Jes 42,8.) Nur dann können wir Ihn von Herzen loben, weil wir keinen Anteil hatten an dem, was geschehen ist. Und nur was Gott tut, ist wirklich „sehr gut" (vgl. 1. Mo 1,31).

Obwohl es eigentlich völlig logisch wäre, wenn wir dieser freundlichen Einladung zur Entspannung folgen und die Dinge völlig Gottes Händen überlassen würden, merken wir, daß uns dies unglaublich schwerfällt. Warum?

  1. In uns steckt - auch wenn wir Christen geworden sind - oft noch tief das angeborene Selbstvertrauen, daß letztlich doch nur wir selbst wissen, was wirklich gut für uns ist. Jesaja 30,15 beschreibt dies treffend: „In Stillsein und in Vertrauen würde eure Stärke sein. Aber ihr habt nicht gewollt; und ihr sprachet: 'Nein, sondern auf Rossen wollen wir fliegen' ..."
  2. Ebenso tief steckt in uns oft noch ein gewisses Mißtrauen, daß Gott es vielleicht doch nicht so gut mit uns meinen könnte: daß Seine Wege mit uns zwar gerecht, aber vielleicht eben doch sehr schwer und wenig erfreulich sein konnten.

Beides sind Trugschlüsse. Es sind im Grunde die alten Lügen, die Satan seit Menschheitsbeginn im Garten Eden immer wieder vorträgt. Aber auch hier gilt, daß ständige Wiederholung ein falsches Argument nicht richtig macht. In Wirklichkeit ist es doch genau umgekehrt: Während Gottes Handeln Glück und Segen in unser Leben bringt, ist es unser „Selbst-in-die-Hand-nehmen-Wollen", sind es unsere eigenen Arrangements, die uns auf schwere Wege bringen und an deren Ergebnissen wir oft ein Leben lang zu tragen haben.

In dieser Hinsicht gibt es auch Gefahren für unser Gebetsleben. Statt loszulassen und dem HERRN die Angelegenheit vertrauensvoll zu übergeben, beten wir vielleicht mit Nachdruck um Dinge, die wir unbedingt haben möchten. Dann kann es sein, daß Gott sie uns tatsächlich gibt. Wir werden aber nicht glücklich dabei und nehmen geistlich Schaden. Psalm 106,15 berichtet von solch traurigen Erfahrungen: „Da gab er ihnen ihr Begehr, aber er sandte Magerkeit in ihre Seelen."

Zum Schluß sei vor einem möglichen Mißverständnis gewarnt. Dieses Loslassen und Warten hat nichts mit Trägheit und Bequemlichkeit zu tun. Die bereits erwähnte Stelle in Hebräer 10,36 macht dies ganz deutlich. Die Zeit des Wartens auf Gott soll ausgefüllt sein mit dem „Tun Seines Willens". Während wir nach Gottes Reich trachten (Mt 6,33) und uns von Ihm dort Arbeit zeigen lassen, will sich Gott um unsere persönlichen Angelegenheiten kümmern und uns geben, was Er in Liebe für uns ausgewählt hat.