Ein echtes Opfer

Eine alltägliche Geschichte

Ruhig liegen die Zelte der Israeliten rings um das Zelt der Zusammenkunft, das Heiligtum ihres Gottes.

Aus einem Zelt sieht man einen Mann herauskommen. Man sieht ihm sofort an, daß ihn irgend etwas bedrückt. Es scheint so, als ob er eine große innere Last zu tragen habe. Schweren Schrittes geht er zu seinen Tieren. Bewegung kommt in die kleine Herde, als sie ihren Herrn erkennen. Froh wird er begrüßt. Seine Tiere kennen ihn. Oft genug ist er zu ihnen gekommen, um sie zu versorgen, ihnen Futter und Wasser zu geben. Neugierig scharen sie sich um ihn. Doch heute ist der Mann nicht gekommen, um sie zu füttern, auch nicht, um mit ihnen zu spielen oder sie zu liebkosen. Suchend gleitet sein Blick über die Tiere, bis er eine Ziege findet. Langsam geht er auf sie zu.

Dann untersucht er sie gründlich, um ganz sicherzugehen, daß sie gesund ist. Und während er das Fell seiner jungen Ziege krault, legt er ihr einen Strick um den Hals, um sie mitzunehmen. Dann verläßt er seine kleine Herde. Sein Weg führt ihn zum Zelt der Zusammenkunft, an den Ort, wo Gottes Gegenwart verheißen und durch die Wolkensäule für jeden Israeliten sichtbar war. Während das Tier ahnungslos neben ihm herläuft, wird er immer trauriger. Mit den Gedanken ist er schon im Vorhof, dem Ort, wo die Opfertiere geschlachtet werden. Es bedrückt ihn sehr, daß er gleich sein eigenes Tier schlachten muß.

Auf dem Weg zum Heiligtum begegnen ihm auch andere Israeliten. Auf die Frage, wo er denn hingehe, antwortet er traurig, daß er unterwegs sei zum Zelt der Zusammenkunft, um seine Ziege zu opfern. Er hat gesündigt, etwas getan, was Gott ausdrücklich verboten hatte. Nach dem Gesetz Gottes muß er sterben, wenn er nicht ein Tier an seiner Stelle opfert. Deshalb ist er jetzt unterwegs, und deshalb ist er so traurig und niedergedrückt, weil er weiß, daß wegen seiner Sünde sein unschuldiges Tier sterben muß, um das er sich so liebevoll gekümmert hat, das er aufgezogen und versorgt hat.

Andere, die mit ihm gehen und auch ein Tier mit sich führen, sind zwar ernst, doch nicht traurig - wie er. Sie sind unterwegs, um Gott ein Brand- oder ein Dankopfer zu bringen. Auf diese Weise wollen sie ihrem Gott von ganzem Herzen Dank sagen dafür, daß Er sie aus der Sklaverei, unter der sie in Ägypten so grausam gelitten hatten, befreit hat. Wie gern wäre er auch unterwegs, um seinem Gott ein solches Opfer zu bringen. Aber bei ihm liegt die Sache ja völlig anders. Das Opfer, das er zu bringen hat, ist ein Sündopfer.

Bei dem Heiligtum angekommen, tritt er auf den Vorplatz vor dem eigentlichen Zelt. Mitten auf dem Platz steht ein großer Altar, dessen vier Ecken hornartige Fortsätze haben. Hoch lodern die Flammen auf, als der Priester das Fett der Opfertiere räuchert. An der Seite stehen die Schlachtbänke, wo die Tiere getötet werden. Angstvolles Blöken der Tiere, die instinktiv wittern, daß sie getötet werden, erfüllt die Luft. Die Priester helfen beim Schlachten, indem sie das Blut in Gefäßen auffangen. Mit trauriger Stimme wendet sich der Mann an einen Priester, um ihm zu sagen, weshalb er gekommen ist.

Gemeinsam mit dem Priester geht er zu einer der Schlachtbänke. Die Ziege ist mittlerweile unruhig geworden. Sie spürt, daß etwas nicht in Ordnung ist. Ein letztes Mal schaut der Mann seine junge Ziege an. Es bricht ihm fast das Herz, daß sie, da sie doch unschuldig ist und nichts dafür kann, daß er gesündigt hat, nun von seiner eigenen Hand geschlachtet werden muß. Mit der gleichen Hand, mit der er ihr so oft das Futter gegeben hat, mit der er sie gestreichelt und liebkost hat, muß er sie nun wegen seiner Sünde töten.

Dann legt er nach der göttlichen Vorschrift seine Hand auf den Kopf der Ziege. Damit will er symbolisch ausdrücken, daß seine Schuld auf das Opfertier übergehen soll. Dann durchtrennt er mit einem schnellen Schnitt die Kehle des Tieres. Blut spritzt und fließt. Ein letztes Zucken - dann ist die junge Ziege tot. Schnell fängt der Priester das Blut in einem bereitstehenden Gefäß auf. Dann geht er mit dem Blut zu dem Brandopferaltar. Er taucht seinen Finger in das Blut und streicht etwas davon an die Hörner des großen Altars. Den Rest des Blutes gießt er auf den Boden am Fuß des Altars.

Inzwischen hat der Opfernde dem Tier das Fell abgezogen, um an das Fett im Inneren zu gelangen. Nun trennt er das Fett von dem Fleisch und den Eingeweiden ab. Der Priester ist zurückgekommen, nimmt das Fett, geht wieder zurück zum Brandopferaltar, um es nach der göttlichen Anweisung über dem Feuer zu räuchern.

Nachdem er das getan hat, kommt er wieder zurück zu dem Mann, der den Priester mit tiefer, innerer Anteilnahme beobachtet hat. Der Priester hat dem Opfernden nun eine wunderbare Botschaft zu sagen. Und so darf der Mann erfahren, daß seine Sünde in den Augen Gottes jetzt vergeben ist, da er die Forderung des Gesetzes erfüllt hat. Er braucht nicht zu sterben, da an seiner Stelle das Opfertier getötet wurde. Gott hat sein Opfer angenommen und ihm vergeben. Immer noch traurig, weil das unschuldige Tier wegen seiner Sünde sterben mußte, hört der Mann dem Priester aufmerksam zu. Nur langsam kehrt die Freude wieder in sein Herz ein, weil er weiß, daß Gott seine Sünde vergeben hat.

Auf dem Weg zurück zu seinem Zelt kann man merken, daß dem Mann eine große Last abgenommen ist. Zu Hause angekommen, dankt er von ganzem Herzen seinem Gott, daß ihm vergeben worden ist.

Doch so schnell läßt ihn das Geschehene nicht los. Oft noch denkt er an die schreckliche Szene an der Schlachtbank beim Heiligtum zurück. Das Bild des sterbenden Tieres, das spritzende Blut, die gebrochenen Augen der jungen Ziege lassen ihn einfach nicht mehr los. Und eines nimmt er sich in seinem Herzen ganz fest vor: er wird mehr und mehr aufpassen, daß es ihm nicht so schnell wieder passiert, daß er etwas tut, was Gott ausdrücklich verboten hat. Nicht noch einmal soll wegen seiner Sünde eins von seinen unschuldigen Tieren sterben müssen. Mit aller Kraft wird er sich bemühen, Gott wohlgefällig zu leben.

Meine alltägliche Geschichte?

Nein, natürlich nicht, werden wir sagen. Wir leben ja in der Zeit der Gnade und nicht mehr in der Zeit des Gesetzes vom Sinai. Zum Glück ist die Zeit blutiger Tieropfer vorbei. Mit tiefer Dankbarkeit dürfen wir auf das Erlösungswerk am Kreuz auf dem Hügel Golgatha vor den Toren Jerusalems zurückblicken. „Mit einem Opfer hat er auf immerdar vollkommen gemacht, die geheiligt werden", so versichert uns Hebräer 10, 14. Doch so wunderbar unsere Stellung vor einem heiligen Gott auch ist, so bleibt doch die Frage, wie wir die traurige Tatsache verarbeiten, daß es uns doch immer wieder passiert, daß wir als Gläubige sündigen. In 1. Johannes 1,9 lesen wir dazu einen Grundsatz, der sowohl seine Anwendung findet auf einen Sünder, der sich zu Gott bekehrt, als auch auf einen Gläubigen, der aufgrund von eingetretener Sünde die Gemeinschaft mit Gott, dem Vater, verloren hat: „Wenn wir unsere Sünden bekennen, so ist er treu und gerecht, daß er uns die Sünden vergibt und uns reinigt von aller Ungerechtigkeit."

Diesen Prozeß der inneren Wiederherstellung finden wir in dem Abschnitt von 3. Mose 4,27-35 eindrucksvoll illustriert. Stellen wir uns einmal vor, für jede Sünde müß-ten wir ein uns liebgewordenes Tier opfern. Das war übrigens für den Israeliten mit einem echten Wertverlust verbunden - es kostete ihn etwas, wieder mit Gott in Gemeinschaft zu kommen. Bedenken wir die Szene im Vorhof: während die eine Hand auf dem Kopf des Opfertieres liegt (dies versinnbildlicht den Ubergang der Sünde von dem schuldigen Menschen auf das unschuldige Tier), befindet sich in der anderen Hand das Messer.

Empfinde ich noch zutiefst das Geschehen auf Golgatha, wo mein Heiland für jede meiner unendlich vielen Sünden in Wort, Tat und Gedanken so schrecklich leiden und an meiner Stelle den Tod finden mußte? Kann ich in Anbetracht dieses Leidens leichtfertig mit der Sünde umgehen?

Nein, ganz im Gegenteil - das tägliche Erinnern an den Tod meines Heilandes, der stellvertretend für mich das Strafgericht Gottes für jede meiner Sünden ertrug, wird mich immer wieder neu tief beeindrucken und einen bewahrenden Einfluß auf mein Leben ausüben.