Bibel erklärt

Biblische Begriffe

Die Erläuterungen, die wir unter dieser Überschrift den Lesern vorstellen, haben nicht das Ziel, eine theologische" Deutung zu geben, sondern sollen einfach Begriffe, die heute vielleicht anders verstanden werden oder auch ungebräuchlich geworden sind, erklären. Dabei möchten wir jeweils auf ihren Gebrauch im Zusammenhang der Heiligen Schrift eingehen. Dies kann natürlich kaum in erschöpfender Weise geschehen, könnte aber vielleicht dazu dienen, Denkanstöße für unsere Praxis als Christen zu geben.

Bei vielen Begriffen, die die Heilige Schrift gebraucht, gibt ihre erste Erwähnung über Verwendung bzw. Bedeutung Aufschluß.

Ein Beispiel dafür bietet die erste Erwähnung des Begriffes „Liebe': 1. Mose 22,2 „ deinen Sohn, deinen einzigen, den du lieb hast..." - Da dieses außergewöhnliche Handeln Abrahams mit Isaak, den er lieb hat, hier im Vorausbild davon spricht, wie Gott, der Vater, den Sohn opfert, ist dies ein beeindruckender Hinweis darauf, daß wahre Liebe ihren Ursprung in Gott hat. Es scheint, daß wir dieses Prinzip auch anwenden dürfen, wenn wir den Begriff der „Barmherzig-keit" untersuchen wollen.

Bis 1. Mose 43,13 ist von Barmherzigkeit nicht die Rede. Hier aber sehen wir einen alten Vater, der um zwei seiner Söhne große Sorge hat: Simeon, der in Ägypten zurückgelassen war, und Benjamin, den er nun mitgehen lassen sollte und um den er Angst hat, ihn zu verlieren. Aber die äußere Not der Familie ist groß, „die Hungersnot war schwer im Lande", und so erhofft sich der alte Vater, Jakob, daß Gott, „der Allmächti-ge" ihnen Barmherzigkeit gebe vor dem Mann, der in Agypten die oberste Regierungsgewalt hat: Joseph (1. Mo 43,14).

Vielleicht können wir daraus schon drei Gesichtspunkte des Begriffes Barmherzigkeit entnehmen:

  1. Zum ersten, daß Jakob, obwohl Gott noch nicht so gekannt war, wie Er sich in dem Herrn Jesus Christus offenbart hat, doch schon auf die Barmherzigkeit des "Allmächtigen" hofft, der auch das Herz des Herrschers von Ägypten bewegen kann.
  2. Zum zweiten wird sichtbar, daß Barmherzigkeit erhofft wird von dem, der in Not, in Elend und auswegloser Lage ist und sich selbst hilflos fühlt.
  3. Und der dritte Gesichtspunkt liegt in der vorbildlichen Bedeutung der Person Jo-sephs, vor dem die Söhne Jakobs Barmherzigkeit finden sollen: er ist sowohl der "Retter der Welt" - so genannt vom Pharao - als auch der Beurteiler der Gedanken seiner Brüder und als Herrscher deren Richter. Dies läßt wiederum an den Herrn Jesus denken, der die "herzliche Barmherzigkeit" Gottes (Lk 1,77.78) brachte.

Die eigentlich erste Erwähnung der göttlichen Barmherzigkeit, wo Gott selbst diesen Charakterzug von sich ausspricht, ist aber die äußerst bewegende Szene am Fuß des Berges Horeb. Mose soll das Volk, das sich schon gegen Gott aufgelehnt und das Gesetz gebrochen hatte, nach Kanaan führen, aber er empfindet die Last dieser Aufgabe derart, daß er mit Gott darüber redet und Sein gnädiges „Mitgehen" erbittet. Doch dann spricht er den Wunsch aus, Gottes Herrlichkeit zu sehen.

Aber: nicht kann ein Mensch Gott sehen und leben. Gott zeigt sich „nur" in Seinen Eigenschaften der Gnade und der Barmher-zigkeit: „Ich werde begnadigen, wen ich begnadigen werde, und werde mich erbarmen, wessen ich mich erbarmen werde" (2. Mose 33,20.19). Gott wußte selbstverständlich im voraus, wie das Volk Israel sich verhalten würde, wieviel inneres und äußeres Elend über sie kommen würde, und zwar nicht allein auf der jahrelangen Wanderung durch die Wüste, sondern auch zu allen Zeiten. Und da spricht Er von Seiner absoluten und souveränen Barmherzigkeit - genauso wie Gott auch in Seiner Gnade souverän ist. So erbarmt sich Gott des Elenden: Sein Herz nimmt tätig Anteil an dem Armen: das deutsche Wort Barmherzigkeit bedeutet genau dieses (wie das lateinische misericordia - „Herz zeigen in der Misere"). Das beinhaltet also zuerst echtes Mitleid und Mitgefühl, aber dabei bleibt es nicht. Es ist nicht nur ein Gefühl, sondern es führt zu helfendem Han-deln, denn das Herz ist beteiligt, das der Ausgangspunkt der Entscheidungen (1) ist (Spr 4,23).

Das leitet über zu der Frage des göttlichen Handelns mit uns Menschen überhaupt. Auch hier ist es Seine Barmherzigkeit, uns in unserem größten Elend, dem „Sünden-Elend" zu begegnen. Er sandte Seinen Sohn als Mensch auf die Erde, um - ich zitiere die Worte des Zacharias, des Vaters Johannes' des Täufers -: „Erkenntnis des Heils zu geben in Vergebung ihrer Sünden, durch die herzliche Barmherzigkeit unseres Gottes, in welcher uns besucht hat der Aufgang aus der Höhe, um denen zu leuchten, die in Finsternis und Todesschatten sitzen, um unsere Füße zu richten auf den Weg des Frie-dens" (Lk 1,77-79). Als der „barmherzige Samariter", wie wir Ihn nennen dürfen, weil Er „die Barmherzigkeit an ihm tat" (Lk 10,37), kümmerte Er sich „innerlich bewegt" um den elenden Menschen, der unter die Räuber gefallen war. Seine Barmherzigkeit ist ein Ausdruck Seiner Liebe - denn „Gott ist Liebe" (1. Joh 4,8) - genauso wie Seiner Gnade („der Gott aller Gnade" - 1. Pet 5,10). Beide Ausdrücke finden wir in manchen Stellen zusammen genannt, so z.B. Epheser 2,4.5: „Gott aber, der reich ist an Barmher-zigkeit, wegen seiner vielen Liebe, womit er uns geliebt hat .., hat uns mit dem Christus lebendig, gemacht - durch Gnade seid ihr errettet.

Die Gnade spricht mehr von der Quelle und dem Charakter dessen, der sie übt, nämlich Gott, die Barmherzigkeit betont stärker den Gesichtspunkt der Not und des Elends des-sen, der sie empfängt, nämlich des Menschen (vgl. J.N.D. Letters III, S. 216). Gott hat uns also errettet „nach seiner Barmher-zigkeit' (Tit 3,5), hat uns zu „Gefäßen der Begnadigung [FN: der Barmherzigkeit]" gemacht (Röm 9,23; in der E.Ü. steht dies Wort in der Fußnote, im Griechischen ist es dasselbe Wort eleos wie in Titus 3,5 und anderen Stellen).

Und wir bleiben weiterhin solche, die Gottes Barmherzigkeit erfahren, und zwar solange wir noch im „Leib der Niedrigkeit" sind (Phil 3,21) und den Folgen der Sünde unterliegen. Da haben wir unseren Herrn als den „barmherzigen und treuen Hohen-priester" (Heb 2,17), der sich für uns ver-wendet, so daß wir „Barmherzigkeit empfangen und Gnade finden zur rechtzeitigen Hilfe" (Heb 4,16). Wie nötig jeder von uns Gottes Barmherzigkeit hat, wird uns auch dadurch deutlich, daß der Apostel Paulus sie in seinen späten Briefen dem Timotheus wünscht (1. Tim 1,1; 2. Tim 1,1; siehe auch Judas 1). Schließlich dürfen wir auch "die Barmherzigkeit unseres Herrn Jesus Christus" erwarten zum ewigen Leben (Jud 21); der Herr erweist zum letzten Mal Seine Barmherzigkeit an uns, indem Er uns in das ewige Leben einführt, wenn Er kommt, um uns zu sich zu nehmen.

Noch eine andere Blickrichtung dürfen wir bedenken: als „Nachahmer Gottes" (Eph 5,1) dürfen auch wir Barmherzigkeit üben: „Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist" (Lk 6,36), und dies bedeutet auch: „Wer aber der Welt Güter hat und sieht seinen Bruder Mangel leiden und verschließt sein Herz vor ihm, wie bleibt die Liebe Gottes in ihm?" (1. Joh 3,17). Aufschlußreich erscheint mir auch, daß das Wort für Almo-sen" eine direkte, sprachliche Ableitung von dem Wort Barmherzigkeit ist (siehe z.B. Apg 9,36 und 10,2).

„Ziehet nun an, als Auserwählte Gottes, .. herzliches Erbarmen" (Kol 3,12). Wir könnten mit hartem Herzen einer Form genügen und sogar äußerlich „Schlachtop-fer" bringen, und dabei in unseren Empfindungen kalt bleiben gegenüber dem Elend - auch dem Elend der Sunde als ihrer Folge - bei de-nen, die uns um-
geben. Der Herr sagte in Matthäus 9,13 und noch einmal in Matthäus 12,7: „Ich will Barmherzigkeit und nicht Schlachtopfer" und Er fordert uns auf: „Gehet aber hin und lernet, was das ist" (Mt 9,13).